Der Holzwurm - Luskas Bücher

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Der Holzwurm

Buch 8
Das alte Bauernhaus
Es stand seit vielen Jahren leer und war dem Wind und Wetter ausgesetzt. Seit Peter gestorben war, kümmerte sich niemand mehr um das einst mal hübsche Gehöft. Es stand ganz einsam am Wald-rand, umgeben von hohen Tannen. Wenn die Sonne durch die Bäume schien, entstand eine ganz spezielle, romantische Stimmung. Dann wurde das Haus erleuchtet, wie damals, als die Kinder noch dort wohnten.

Das Bauernhaus war vor vielen Jahrzehnten gebaut worden und die Heimat von mehreren Generationen. Damals gehörte der Betrieb zum Schloss und die Bauern waren die offiziellen Hoflieferanten. Doch die Schlossherren waren in ihr Haupthaus am anderen Ende des Königreiches umgezogen, und das Herrenhaus oben auf dem Hügel stand seither leer. Die Witterung hatte ihres dazu beigetragen, dass aus dem einst mal schönen Schloss eine Ruine wurde.

Doch das Bauernhaus am Waldrand blieb noch lange mit Leben erfüllt. Kinder spielten im liebevoll angelegten Garten während die Eltern auf dem Feld arbeiteten. Die Pferde und Rinder weideten auf der nahegelegenen Wiese, auf der noch saftige Gräser wuchsen. Aus dem Hühnerstall hörte man jeden Morgen den Hahn krähen, der den neuen Tag begrüsste und seinem Harem lautstark mitteilte, dass es Zeit zum Aufstehen war. Hinter dem Haus lag ein getigerter Kater auf der Lauer auf der Jagd nach einer dicken, fetten Maus. Er war der Chef hier und hielt sein Revier von Feinden frei. Der Tigerkater war ein grosser, stämmiger Kerl, der sein Revier und seine Kätzinnen mit Krallen und Zähnen verteidigte. Trotzdem besass er einen sanften Charakter. Er liebte seine Familie und die Kätzchen, die aus dieser Liebe hervorgingen.

Auch zwei Schafe und ein Schwein gehörten zum Hof. Die Schafe waren die besten Freunde der Kinder. Sie hiessen Tick und Tack und mussten für manches Spiel hinhalten. Wenn im Frühling die Lämmchen auf die Welt kamen, war das Glück vollkommen. Die Kinder legten sie in den Puppenwagen und deckten sie zu als seien sie kleine Menschenkinder. Dann spazierten sie mit ihnen den Weg hinauf und zurück. Natürlich bekam jedes Lämmchen einen Namen. Doch die Freude war nur von kurzer Dauer, denn als die Lämmchen grösser wurden, verkaufte man sie. Die Eltern brauchten das Geld, da man ja nicht mehr Hoflieferant war.

Neben dem Wohnhaus stand eine grosse Scheune, wo die Pferde und Rinder bei kaltem und nassem Wetter untergebracht waren. Die Ställe waren mit Stroh ausgelegt und wurden nicht nur von den Pferden und Rindern benutzt. Spatzen und Krabbeltiere wohnten ebenfalls dort. Von den Spinnen, die ihre Netze überall zogen, wollen wir schon gar nicht reden. Mit diesen seidenen Fäden hätte man manchen Pullover stricken können.

Es war eine schöne Zeit, als das Haus noch belebt war. Doch die Arbeit in der Landwirtschaft war hart geworden. Wer nicht genug Geld hatte, konnte sich keine Maschine leisten, mit der man das Gras mähen oder den Acker bewirtschaften konnte. Es gab noch keine Genossenschaften und Vereinigungen, wo man sich diese Geräte ausleihen konnte. Für die Jungen war die Arbeit auf dem Feld unattraktiv geworden. Ohne Maschinen und nur mit einer alten Stute, die man vor den Pflug spannte, konnte man die Felder nicht länger bewirtschaften. Es war viel Arbeit und zu wenig Ertrag. Ferien konnten sie auch nie machen, denn das Vieh musste ja das ganze Jahr hindurch versorgt werden. Dazu kam, dass man immer Wind und Wetter ausgesetzt war und nie richtig Feierabend hatte. Wenn der Sommer wieder mal sehr heiss und trocken war, ging die Ernte verloren und das Geld fehlte dann in der Kasse. Das Gleiche galt auch bei zu nassen Jahren. Dann ertrank das Korn und die Silos blieben leer.
Eines Tages zogen sie weg in die Stadt und arbeiteten fortan in der Fabrik. Zwei von ihnen hatten sogar die Möglichkeit, ein Studium oder eine Ausbildung zu absolvieren. Mia war die Letzte, die aus-zog, um in der Stadt Architektur zu studieren. Sie hatte es lange hinaus gezögert, denn sie liess ihre Eltern nur ungern allein. Sie war ihnen unendlich dankbar für das, was sie für sie getan hatten. Sie waren vorbildliche Eltern gewesen, obwohl sie nicht ihr eigen Fleisch und Blut war.

Als Mia ausgezogen war, wurde das Haus leer. Nur noch die Alten blieben zurück. Zwar schickten ihnen die Kinder etwas Geld, doch reichte das kaum, um sich über Wasser zu halten. Nach und nach verkauften sie deshalb ihr Vieh, um sich mit dem Erlös Nahrung kaufen zu können. Als sie alt und gebrechlich wurden, schlug ihnen die Gemeinde vor, dass sie in die Stadt in ein Altersheim umziehen sollten. Doch sie lehnten ab. Sie liebten ihr Zuhause und wollten dort bleiben bis zum Ende, auch wenn das Leben dort viel schwieriger war als im Altersheim. Sie mussten selber kochen und das Wasser aus dem Brunnen vor dem Hause holen. Ab und zu kam der Besitzer des Dorfladens vorbei und brachte ihnen einen grossen Vorrat an Lebensmitteln. Sie waren sehr dankbar für diesen Dienst, denn es war ihnen nicht mehr möglich, selber einkaufen zu gehen. Trotzdem war man im Dorf wachsam und beobachtete genau, ob es den Alten noch gut ging. Der Arzt kam regelmässig auf eine Visite vorbei und brachte Medikamente. Jeder wusste, dass man sie in Ruhe lassen musste. Sie waren dort geboren und hatten ihr ganzes Leben lang dort gelebt. Einen so alten Baum konnte man nicht mehr umpflanzen. Er wäre zugrunde gegangen. Als Margret im Alter von 89 Jahren ihre Augen für immer schloss, dauerte es keine zwei Wochen und Peter folgte ihr. Nun stand das Haus leer, und das schon seit etlichen Jahren.
Für Aussenstehende schien das Bauernhaus kalt und leer zu sein. Niemand wusste, dass es dennoch viel Leben im Innern gab. Eine grosse Mäusefamilie war eingezogen und hatte sich in der Scheune eingenistet. Auf dem Dachboden lebten Fledermäuse. Man sah sie kaum, denn sie schliefen den ganzen Tag kopfüber. Aber wenn es dunkel wurde, flogen sie in die Nacht hinaus, dem Mond entgegen. Sie waren absolut lautlos, nur manchmal hörte man ein leises Fie-pen.

Wo es Mäuse gibt, gibt es auch Katzen! Charly, der rote wilde Kater, der vorher im Wald gelebt hatte, war im Bauernhaus eingezogen. Noch standen dort Stühle, ein Sofa und ein Bett, wo er es sich bequem machen konnte. Nahrung gab es ja genug, denn die Maus-familie vergrösserte sich von Monat zu Monat. Und ab und zu kamen auch Spaziergänger vorbei, die vor dem Haus picknickten. Dann blieben meistens Essensreste übrig, über die er sich her machte.
Der Holzwurm
Und dann gab es noch die geheimnisvolle Holztruhe, die im Keller stand. Auch sie war seit vielen Jahren bewohnt von einer grossen Schar Holzwürmer. Diese frassen sich durch das morsche Holz. Als sie ein Loch in die Truhe gefressen hatten, zogen sie weiter durch das Haus. Man fand sie überall, im Boden, im Schrank und im Gebälk. Wenn man die Dachbalken näher betrachtete, entdeckte man kleine Gänge, die Nagespuren der Holzwürmer. Durch ihre Fresssucht verursachten sie grosse Schäden, und es war nur eine Frage der Zeit, bis einer der Balken so marode war, dass er durch-brach. Dann wäre das Haus eingebrochen. Doch noch war es nicht so weit. Auch wenn die meisten Holzwürmer sich im Haus verteil-ten, blieb einer zurück in der Truhe.

Er war ein ganz besonderes Tier, viel grösser als seine Kollegen und hell glänzend wie ein Leuchtkäfer. Er war zu gross, um sich durch das kleine Loch zu zwängen, das die anderen Holzwürmer gemacht hatten. Im Haus redete man davon, dass er ein verwunschener Prinz sei, der von einer Hexe mit einem Fluch zum Holzwurm verhext worden war. Anscheinend hatte er sich gegen den bösen König ge-stellt, als dieser wieder einmal überhöhte Steuern von seinen Untertanen gefordert hatte. Es gab damals immer wieder Streit zwi-schen dem niederträchtigen König und seinem Sohn. Der Prinz hatte herausgefunden, warum seine Mutter das Schloss und den Vater verlassen hatte, als er noch ganz klein war. Er hatte eine Urkunde gefunden und seinen Vater zur Rede gestellt. Doch dieser liess nicht mit sich reden. Alle Versuche scheiterten. Aber der Prinz liess nicht locker, und der König bekam es mit der Angst zu tun, dass sein Sohn sein Geheimnis verraten würde.

Deshalb hatte er die Hexe zum Hof bestellt und ihr befohlen, den Sohn zu bestrafen und verschwinden zu lassen. Niemand wusste, was damals genau passierte. Fest stand, dass niemand mehr den Prinz gesehen hatte seit diesem Tag. Nur die Hexe wusste, wo er sich aufhielt. Doch sie hatte dem König versprochen, das Geheimnis für sich zu behalten. Als Belohnung durfte sie in seinem Schloss wohnen.
Es spukt
Als die Zeiten besser wurden, kehrten die Leute aus der Stadt zurück ins Dorf. Die Gemeinde, die für das leer stehende Haus verantwort-lich war, bot auch dieses zum Kauf an. Man spielte mit offenen Karten. Das Haus war billig, doch musste man noch einige Repa-raturen vornehmen. Die Lage des Hofes war hervorragend, etwas abseits des Dorfes mitten in der schönen Natur. Es gab mehrere Interessenten, denen der Hof gefiel. Sie wären bereit gewesen, etwas Geld und Arbeit in die Renovierung zu stecken, wenn nur nicht das Gerücht bestünde, dass es im Haus spuke. Eigentlich glaubten sie nicht an solche Sachen, doch es war ihnen unwohl beim Gedanken, ein Haus zu kaufen, in dem es spukt. Also wollten sie es vor dem Kauf testen und ein paar Nächte dort verbringen.
In der ersten Nacht war noch alles ruhig. Zwar hörten sie Geräusche aus dem Wald, doch diese stammten von den Tieren. Damit konnten sie problemlos leben. Doch in der nächsten Nacht gegen Mitternacht ging es los. "Puhhhh", "äääähhhh!" drang es durch die Balken. Jemand stöhnte als liege er im Sterben. Dann quietschte eine Türe und sie hörten ein Trippeln auf dem Dachboden, als rannten dort Hundert Ratten umher. Im Gebälk vernahmen sie ein Schmatzen. Die Holzwürmer waren am Arbeiten. Draussen hörten sie den schrillen Schrei einer Maus, die im Maul einer knurrenden Katze hing.
Egal was sie anfassten, sie blieben an den Spinnweben kleben. Es war richtig unheimlich im halb verfallenen Hof. Als dann nach Mitternacht eine Mausfamilie über ihr Bett rannte, war es mit der Geduld vorbei. Sie packten ihre Habseligkeiten, stiegen ins Auto und rasten davon. "Nein, das ist zu viel." Das Thema Hauskauf war erledigt. Die Tiere hatten ihr Revier wieder einmal gekonnt vertei-digt.

Doch manchmal gab es Besuch, der von den Tieren nicht vertrieben wurde. Wenn ein Landstreicher einen Unterschlupf suchte, verhielten sie sich ganz ruhig. Er durfte sich auf dem Sofa ausruhen und sich vor dem Regen schützen. Er war bescheiden und dankbar für diesen Unterschlupf, auch wenn der Wind durch die Fenster pfiff und das Haus keinerlei Komfort bot. Die Tiere wussten, dass dieser Mensch Hilfe brauchte, deshalb liessen sie ihn in Ruhe. Als er sich von den Strapazen seiner Reise etwas erholt hatte, zog er weiter.
Besucher
Manchmal kam der Zirkus ins Dorf. Dann stellten sie ihre Zelte auf und zeigten den Zuschauern ihre Kunststücke. Sie hatten weisse und schwarze Pferde dabei, die in der Manege ihre Kunst zeigten. Damit sie tagsüber etwas Auslauf hatten, brachte man sie zum Hof. Dort durften sie auf der saftigen Wiese weiden und sich etwas erholen. Nach der Vorstellung konnten sie die grosse Box im Stall beziehen, was komfortabler war als die Unterkunft im Pferdewagen. Für die tierischen Hausbewohner war das eine Abwechslung. Jetzt gab es wieder etwas Leben im Haus, wenn auch nur vorübergehend. Sie hörten das Schnauben und Scharren der Pferde und sogen den Geruch der grossen Lipizzaner in sich ein. Sie bewunderten diese Tiere und schauten ihnen zu, wenn sie für ihre Vorstellung übten. Es waren sehr edle Pferde, die sicher auch kein leichtes Leben hatten;
ständig unterwegs, jeden Tag viel Arbeit und immer eingepfercht in den engen Pferdewagen. Wie schön war es doch auf der Weide und im Stall, wo man sich der Länge nach ausstrecken und auf dem Rücken wälzen konnte. Leider kam der Tag schneller als erwartet, und der Zirkus baute sein Zelt ab. Die Pferde verabschiedeten sich von den Haustieren und bedankten sich für die Gastfreundschaft. Der Zirkus zog weiter, und es wurde wieder totenstill im Haus.

Der Holzwurm sass noch immer in der Falle. Zwar hörte er von den anderen Tieren, was im Haus geschah und wer zu Besuch kam. Er hatte die Pferde wiehern gehört und über den Clown gelacht, der draussen lautstark seinen Auftritt geübt hatte. Auch dass man die Familie vertrieben hatte, die das Haus kaufen wollte, verschwieg man ihm nicht. Doch all das musste er von der Ferne miterleben. Er war in der Truhe eingesperrt, und kein Licht drang zu ihm hinein. Die Holzkiste, in der er festsass, war unter dem Kellerboden versenkt und mit Erde zugeschüttet worden. Die Hexe hatte ganze Arbeit geleistet. Niemand durfte ihn finden und keiner sollte die Truhe öffnen. Jeder Lichtstrahl könnte ihre Hexenkunst vernichten. Nur wenn er im Dunkeln blieb, blieb er auch ein Holzwurm. Zudem hatte sie die Urkunde, der Grund für den Streit mit dem König, zu ihm in die Truhe geworfen. Also musste die Kiste verschlossen bleiben auf immer und ewig. Und dafür musste sie sorgen, denn sie wollte ja auch weiterhin im Schloss wohnen und das Leben geniessen. Und der Holzwurm hatte keine Wahl. Er war zu schwach, um sich allein zu befreien.
Totalschaden
Wochen später hatte der Gemeinderat den Auftrag bekommen, eine Lösung für das alte Bauernhaus und das brachliegende Land zu suchen. Es gab einen Interessenten aus der Stadt, der dort ein paar Einfamilienhäuser errichten wollte. Die Lage war sehr gut und das Interesse gross. Das Architekturbüro schickte deshalb ein Planungs-team ins Dorf für die Verhandlungen mit der Gemeinde. Die Ar-chitekten sollten sich einen Ueberblick vor Ort beschaffen und Messungen durchführen. Es gab bereits erste Zeichnungen, die aber noch sehr abstrakt waren. Der Gemeinderat war äusserst erstaunt, als zur ersten Sitzung ein Planungsteam erschien, zu dem eine junge Architektin gehörte, die er kannte. Es war Mia, die in ihrem Dorf aufgewachsen war. Sie hatte nach dem Studium eine Anstellung in einem Architekturbüro gefunden. Und genau dieses Büro hatte den Auftrag bekommen, sich um das Projekt zu kümmern. Sie wusste nicht, dass es sich bei diesem neuen Objekt um ihr Elternhaus han-delte, denn sie war seit vielen Jahren nicht mehr dort gewesen. Nachdem ihre Eltern gestorben waren, gab es dafür keinen Grund mehr.
Als sie mit dem Team zum Hof hinaus fuhr, kamen alte Erinne-rungen in ihr hoch. Wie schön hatte sie es doch dort gehabt, wie liebevoll war man mit ihr umgegangen. Ihre Eltern hatten nicht viel Geld gehabt, dafür ein gutes Herz. Sie hatten ihren Kindern alles vermittelt, was sie fürs Leben brauchten. Jedes durfte einen Beruf erlernen, und sie waren stolz auf ihre Nachkommen.

In ihrer Erinnerung sah sie die Tiere vor sich, wie sie sich auf der Weide sonnten. Ob der wilde Kater wohl noch lebte, der damals regelmässig von ihnen gefüttert wurde? War das Haus noch bewohnbar? Viele Fragen gingen ihr durch den Kopf, als sie um die letzte Kurve bogen.

Es war ein schrecklicher Anblick, der sich ihr bot. Der Garten war verwüstet, die Hecken standen meterhoch, das Unkraut hatte gesiegt. Der Teich, in dem sie als Kind geplantscht hatten, war schon lange ausgetrocknet. Zwar gab es einen kleinen Trampelpfad, der vom Gartentor zur Haustüre führte, doch musste sie aufpassen, dass sie sich nicht in den wilden Himbeerstauden verhedderte, die Ueberhand genommen hatten. Die Haustüre hing schief in der Verankerung, ein Schloss gab es schon lange nicht mehr. Die Fenster waren mit Spinnweben und Schmutz übersät, die Fensterläden angerostet. Man sah weder hinein noch hinaus. Auch im Innern des alten Hauses sah es nicht besser aus. Zwar standen noch ein paar Möbel herum, doch hatte die Zeit ihre Spuren hin-terlassen. Aus dem Sofa ragten die Sprungfedern heraus. Der Stoff hatte grosse Löcher, aus denen das Stroh schaute, mit dem man damals die Sitze gestopft hatte. Der Tisch war mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Das gleiche Bild bot sich im oberen Stock des Gebäudes.

Dem geschulten Auge von Mia entging es nicht, dass das Haus in einem miserablen Zustand war. Sie kannte die Spuren der Holzkäfer und erkannte sofort, dass diese Schädlinge ganze Arbeit geleistet hatten. Auch lag überall Kot, der auf Mäuse- und Rattenbefall hinwies. Sie hätte es sich denken können, dass ihr schönes Elternhaus nur noch in ihrer Erinnerung existierte. Alles war halt vergänglich auf dieser Welt. Trotzdem konnte sie es nicht übers Herz bringen, dem Haus den Gnadenstoss zu geben. Es musste doch eine Lösung geben, damit dieses ehemals idyllische Anwesen nicht durch moderne Einfamilienhäuser ersetzt wird. Sie wusste zwar, dass das Land nach dem Tod ihrer Eltern an die Gemeinde übergegangen war. Da sie ja nicht die leibliche Tochter war, hatte sie keinen Anspruch auf das Erbe. Und ihre Geschwister waren daran nicht interessiert.

Sie begutachtete auch noch die Scheune, die nicht viel besser aus-sah. Einen kleinen Lichtblick gab es dennoch. Sie entdeckte auf der Tenne den wilden Kater, den sie noch aus ihrer Kindheit kannte und der schon vor langer Zeit dort eingezogen war. Also lebte er noch, wie schön! Zwar war er alt und dünn geworden, aber es schien ihm gut zu gehen. Als die anderen Mitarbeiter in den Stall kam, verkroch er sich in den hintersten Winkel.

Das Projektteam hatte alles gesehen und sich Notizen gemacht. Sie waren sich einig, man konnte hier nichts mehr retten. Der Zahn der Zeit hatte zu stark genagt. Man würde das alte Bauernhaus abreissen, es war ja schon seit Jahren unbewohnt.

Nur Mia war dagegen. Es fiel ihr richtig schwer, sich an diesen Gedanken zu gewöhnen. Dort wo sie schöne Jugendjahre verbracht hatte, wo sie gespielt und rumgetobt hatten, wo die Sonne ihre seidenen Strahlen durch die Bäume schickte, wollte man moderne Häuser errichten. Die Idylle dieser Landschaft wäre somit zerstört. Am Nachmittag, als die Expertengruppe zurück in die Stadt fuhr, blieb sie zurück. Noch einmal fuhr sie zum Elternhaus. Sie wollte Abschied nehmen von ihrer Jugend und ihren Erinnerungen. Allein konnte sich nichts machen, sie war überstimmt worden.

Langsam ging sie von einem Raum zum anderen. Sie sah in ihrer Erinnerung ihre Mutter, die im Sessel sass und einen Pullover strickte. Ihr Vater war damit beschäftigt, den Herd in der Küche anzuheizen, damit man bald kochen konnte. Sie spürte die wohlige Wärme, die vom Kachelofen aus ging. Im oberen Stock hörte sie ihre Brüder, die sich um etwas stritten. Im Garten sah sie die Blu-men, die ihre Mutter liebevoll gepflanzt und gehegt hatte. Sie hörte ihren Vater sagen "Hol mir bitte eine Flasche Wein aus dem Keller." Natürlich wusste sie, dass all diese Gedanken aus der Vergangenheit stammten. Trotzdem stieg sie die Treppe hinunter in den dunklen Keller.

Es war sehr dunkel da unten und roch nach feuchtem Boden. An einer Wand entdeckte sie einen Stapel Holz. Die alte Werkbank, auf der ihr Vater viel gearbeitet hatte, stand noch immer dort. Das Werkzeug, das an der Wand hing, war vollkommen verrostet. Es roch muffig, und überall hingen Spinnennetze. Sie entdeckte eine Maus, die blitzschnell in der Wand verschwand, als sie Mia ent-deckte. Sie durchquerte den Raum, um das Kellerfenster zu öffnen, damit wenigstens ein bisschen Licht in den Raum drang. Da stolperte sie und wäre fast hingefallen. Sie tastete sich zur Wand und öffnete den Fensterladen und das verdreckte Fenster. Endlich kam etwas frische Luft in diesen muffigen Raum. Nun konnte sie sehen, worüber sie gestolpert war. Mitten im Raum war der Fussboden kaputt. Ein Bodenbrett war locker und hatte sich verschoben. Sie hatte noch Glück gehabt, dass sie nicht in das Loch getreten war, das darunter erschien. Das war aber wirklich gefährlich. Es war besser, wenn sie dieses Brett weglegen und das Loch mit Steinen füllen würde. Nicht dass sich noch jemand ein Bein bricht. Als sie das Brett zur Seite schob und in das Loch hinunter schaute, blitzte etwas. Nun war ihre Neugier geweckt. Doch bei diesem Licht konnte sie kaum etwas erkennen. Sie stieg die Treppe wieder hoch und holte sich aus dem Auto eine Taschenlampe.
Der Schatz
Im Strahl der Lampe sah sie etwas glitzern. Unter der Erde schaute ein Metallgriff hervor, der im Schein des Lichtes glänzte. War da etwas vergraben? Sie schob noch zwei weitere Bodenbretter zur Seite. Jetzt sah sie es. Tatsächlich war hier, unter dem Boden, etwas versenkt worden. Sie nahm eine der verrosteten Schaufeln von der Wand und begann zu graben. Schon bald stiess sie auf etwas Hartes. Es musste eine Kiste sein. Es war nicht ganz einfach, die ganze Erde wegzuschaufeln. Die Kiste sass fest, war sie doch schon vor vielen Jahren dort eingegraben worden. Endlich konnte sie die seitlichen Griffe fassen und die Truhe hochheben. Sie trug sie hinauf und stellte sie vor den Eingang, wo es mehr Licht gab als im dunklen Keller.
Die Truhe war uralt und total verdreckt. Auch hier gab es Spuren von Holzwürmern, die ihre Gänge durch das marode Holz gezogen hatten. Typisch dafür waren auch die vielen Löcher im Holz. Mia war total aufgeregt. Wer weiss, vielleicht hatte sie ja einen Schatz gefunden? Es könnte sein, dass diese Kiste voller Schmuck oder Goldmünzen war? Wieso wurde sie sonst vergraben? Irgendjemand musste darin etwas versteckt haben.

Gott sei Dank gab es kein Schloss, lediglich einen Riegel, den sie ohne Probleme öffnen konnte. Zwar war ihre Neugier geweckt worden, doch damit kam auch die Angst. Sie wusste ja nicht, was sie erwartete. Vielleicht sprang sie eine Schlange oder eine Ratte an? Vorsichtig öffnete sie den Deckel. Es quietschte in den Scharnieren, die schon ganz rostig waren. Als die ersten Lichtstrahlen in das Innere der Truhe gelangten, donnerte es kräftig. Der Himmel verdunkelte sich innert Sekunden. Tausend Blitze erhellten den dunkelgrauen Himmel. Die Erde bebte. Es war sehr gespenstisch und Mia machte einen Schritt zurück. Aus der Truhe entwich Rauch. Sie hörte einen lauten, schrecklich schrillen Schrei. Dann war es totenstill. So schnell wie die Wolken gekommen waren, verschwanden sie auch wieder. Der Himmel erhellte sich und die Sonne schien wieder, als sei nichts gewesen.

Mia stand unter Schock. Was war passiert? Dann sah sie ihn, den jungen hübschen Mann, der hinter der Truhe stand. Er lächelte sie freundlich an. "Ich bin Konrad. Danke, dass du mich erlöst hast." Was meinte er damit? Woher war er gekommen? Sie war doch ganz allein hier gewesen? Es dauerte ein paar Minuten, bis sie sich vom Schock erholt hatte. Er nahm sie bei der Hand und führte sie hinauf in den Garten, zur Gartenbank. Dort setzten sie sich hin, und er erzählte ihr seine Geschichte, vom König, dem Streit, von der bösen Hexe, dem Zauberspruch und dem Leben als Holzwurm. Sie hörte ihm gespannt zu. Sie konnte das alles gar nicht fassen. Lange sassen sie dort. Er liess nichts aus. Endlich sollte jemand die Wahrheit erfahren, die Geschichte, die jahrelang unter Verschluss war.

Es waren bestimmt zwei Stunden vergangen, als er zum Schluss kam. Wiederum nahm er sie bei der Hand und führte sie zum Gar-tentor. Als sie sich zum Haus umdrehten, blieb Mia wie angewurzelt stehen. Das alte Bauernhaus war verschwunden. Anstelle der maroden Bude stand nun ein perfektes Wohnhaus mit angrenzendem Stall. Die nun sauberen Fenster waren mit Geranien geschmückt. Im Garten blühten Blumen in allen Farben. Das Gestrüpp am Wegrand war weg, und am Apfelbaum hingen grosse, rote Früchte. Auf der Bank neben dem Eingang lag der wilde Kater in einem mit Kissen gepolsterten Korb. Er blinzelte Mia mit einem Auge zu und lächelte. Ueber der Haustüre hing ein Schild "Mia's Home".

Sie betraten das Haus. Auch innen war alles sauber und aufgeräumt. Die Wände waren hell und unversehrt. Das Bauernhaus war komplett möbliert im Landhausstil. Im Kamin knisterte das Holz, es war wohlig warm. Auch die Küche war modern und komplett eingerichtet. In einer Ecke im Wohnzimmer stand die Truhe aus dem Keller. Sie war offen und fast leer. Es gab keinen Schatz, keinen Schmuck und keine Münzen. Erst war Mia etwas enttäuscht, dann entdeckte sie drei Schriftstücke. Noch immer stand der Fremde bei ihr und schaute ihr zu, wie sie das erste Dokument, auf dem ihr Name stand, öffnete. Es war ein Schreiben von ihren Eltern. Sie hatten schriftlich festgehalten, dass das Bauernhaus nach ihrem Ab-leben an Mia übergehen soll. Damit man ihrem Wunsch auch wirklich nachkam, hatten sie dies in einer Schenkungs-Urkunde festgehalten. Ihre Eltern hatten ihr demnach das Haus noch zu Lebzeiten überschrieben. Als Besitzerin des Grundstückes hatte sie nun die Möglichkeit, den Abbruch zu verhindern. Jetzt, wo das Bauernhaus wieder in altem Glanz erstrahlte, gab es auch keinen Grund dazu.

Auch das zweite Schriftstück war an sie gerichtet. Es enthielt An-gaben zu ihrer Vergangenheit. Ihre Mutter schrieb, dass Mia nicht ihr leibliches Kind war. Mias Eltern hatten sie im Wald gefunden, ein schreiendes kleines Bündel, nur wenige Tage alt. Niemand vermisste das kleine Mädchen. Also hatten sie sich ihrer angenommen und gross gezogen. Sie liebten sie gleich wie ihre eigenen Kinder und gaben ihr, wie auch den Geschwistern, die Möglichkeit in der Stadt eine Ausbildung zu machen. Auch wenn Mia schon längst wusste, dass Margret und Peter nicht ihre richtigen Eltern waren, hatte sie keine Ahnung, wie sie zu Peter und Margret gekommen war. Ueber dieses Thema wurde nie gesprochen. Mias Mutter war es wichtig, dass sie auf diesem Weg die Wahrheit erfuhr.
Konrad nahm das dritte Dokument aus der Truhe. Es war an nie-manden gerichtet, kein Name stand drauf. Es war eine Urkunde, der Grund für den Streit zwischen dem König und seinem Sohn. Diese Urkunde, die der König verschwinden lassen wollte, war eine Geburtsurkunde. Sie bewies, dass der König und seine Frau eine Tochter hatten. Niemand sollte davon wissen, denn der König wollte einen Sohn zum Nachfolger haben, keine Tochter. Er brachte die Tochter, als sie erst wenige Tage alt war, in den Wald und liess sie dort zurück. Die Königin konnte nichts dagegen unternehmen. Sie bettelte und flehte ihn an, ihr zu sagen, was mit ihrer Tochter passiert war. Er wurde wütend und sperrte sie ein, damit niemand etwas von seiner Tat erfuhr. Als der langersehnte Sohn etwas später auf die Welt kam, schickte er sie weg. Sie war ihm lästig geworden. Er jagte sie vom Schloss wie ein wildes Tier. Sie musste alles zurücklassen, auch ihren Sohn. Er drohte ihr mit dem Tod, wenn sie jemals darüber sprechen würde.
Konrad und Mia schauten sich mit offenem Mund an. Das Ge-heimnis war gelüftet, sie waren also Bruder und Schwester. Sie war das Königskind, das der böse Herrscher im Wald ausgesetzt hatte. Und Konrad wurde bestraft, da er das Geheimnis aufgedeckt hatte und es an die Oeffentlichkeit bringen wollte. Das Schicksal hatte es aber gut mit ihnen gemeint und Mia in ihr Elternhaus zu-rückgebracht. Sie hatte, ohne es zu ahnen, den Fluch der Hexe ge-brochen. Sie fielen sich in die Arme und drückten sich fest. Jetzt würde bestimmt alles gut werden. Zusammen waren sie stark.

Am nächsten Tag fuhren sie zum alten Schloss hinauf. Konrad war lange nicht mehr dort gewesen. Der König hatte ihn damals mit-genommen, als er aus dem Schloss ausgezogen war. Vor ein paar Jahren hatte er seinem Vater den Rücken gekehrt. Er konnte seine Boshaftigkeiten nicht länger ertragen und hatte mit zwei Studien-kollegen eine Wohnung gemietet. Er war bescheiden geblieben und zufrieden mit der Situation. Zwar wusste er, dass er im Grunde genommen ein Prinz war und Anrecht auf den Thron hatte, doch das war für ihn nebensächlich. Seine Freiheit und Glück waren ihm mehr wert als der ganze Reichtum dieser Welt.
Die Ruine
Er hatte gehört, dass auch das Schloss, in dem er einst gewohnt hatte, zur Ruine geworden war. Niemand hatte sich mehr um das leerstehende Gebäude gekümmert. Die Gärten waren verwildert und die Schlossfassade zerbröckelte allmählich. Eigentlich schade, denn das Anwesen war einmal ein Glanzstück gewesen. Als Mia und er das Tor zum Schlossgarten durchquerten, blieben sie abrupt stehen. Sie trauten ihren Augen nicht. Auch dieses Gebäude, das bis gestern noch eine Ruine war, hatte seinen alten Glanz wieder erlangt. Die Türme waren mit einem goldenen Schimmer überzogen, die Gärten wunderschön bepflanzt. Sie sahen Schmetterlinge, die von einer Blüte zur anderen flogen und einen Maulwurf, der seine Nase aus der Erde streckte. In einer riesengrossen Voliere weiter hinten wohnten Vögel in allen Farben. Nein, sie waren nicht eingesperrt. Die Türe des Käfigs stand offen. Auch sie hatten ihre Freiheit zurückbekommen. Doch es gefiel ihnen hier im Schlossgarten. Sie hatten alles, was sie brauchten. Es gab genug Futter und Wasser und in der Voliere einen trockenen Unterschlupf. Sie wollten gar nicht weg, auch wenn sie die Möglichkeit gehabt hätten.
Konrad und Mia blieben auch in den nächsten Tagen zusammen. Es gab noch etwas, was sie erledigen mussten. Sie fuhren zusammen ans andere Ende des Königreichs, dorthin, wo Konrad aufge-wachsen war und wo der böse König noch immer wohnte. Es war Konrad mulmig ums Herz, als sie die letzte Kurve zur Auffahrt nahmen. Doch wo war das Herrenhaus geblieben? An der Stelle, wo es einst gestanden hatte, lag nur noch ein Trümmerhaufen. Ein mächtiger Berg Steine und zwei Türme die schief zum Himmel ragten liessen den Schluss zu, dass hier irgendwann einmal ein Schloss gestanden hatte. Ein alter bärtiger Mann sass auf der Mauer, die das Schloss umgeben hatte. Er sah das junge Geschwisterpaar, das fassungslos zum Steinhaufen schaute. "Jaja, die Natur und ihre Gewalt", hörten sie ihn sagen. "Vor einer Woche zog ein gewaltiger Sturm über dieses Land. Er kam vollkommen unerwartet, sozusagen aus heiterem Himmel. Er zog eine Strasse der Verwüstung hinter sich her. Das Schloss hat es besonders stark erwischt, da es hoch oben auf dem Hügel stand. Der Wind prallte mit heftiger Gewalt an die Schlossmauern und rüttelte daran. Erst stürzten die Türme in die Tiefe, dann fielen Steine aus der Fassade. Danach flogen die Fensterläden in den Garten hinunter. Die Mauern konnten dem starken Sturm nicht mehr standhalten und fielen in sich zusammen. Die Hexe, die dort gelebt hatte, war auf der Stelle tot, erschlagen von einem Dachziegel. Doch der böse König konnte entkommen. Niemand weiss, wohin er geflüchtet ist. Doch dafür interessiert sich niemand. Alle sind froh, dass seine Schreckensherrschaft ein Ende hat. Aus diesem Grund wird heute Abend ein grosses Fest im Dorf stattfinden. Wenn ihr Lust und Zeit habt, kommt vorbei." "Das machen wir gerne, danke für die Einladung.
Die Zerstörung
Konrad und Mia durchquerten den zerstörten Garten. Von vorne sah das Haus grauenhaft aus. Doch auch dahinter war es nicht besser. Ueberall lagen Steine und Ziegel herum, das totale Chaos. Oben auf diesem Berg aus Steinen stand etwas sehr Eigenartiges, eine Art Säule mit einer Statue? Je näher sie kamen, desto genauer konnten sie erkennen, worum es sich handelte. Hier stand eine Kiste, vermutlich eine alte Holztruhe. Sie war vollkommen durchlöchert. Holzwürmer hatten darin gewütet und sich einen Weg nach aussen gebohrt. Nur einer schien es nicht geschafft zu haben. Nur sein Kopf ragte heraus, sein Körper war zu fett gewesen um sich durch das kleine Loch zu zwängen. Auf seinem Kopf trug er eine Königskrone. Sein Gesicht war verzerrt und böse. Die Hexe hatte den König mit letzter Kraft in einen Holzwurm verzaubert. Und damit noch nicht genug. Sie hatte das Holz mitsamt Bewohner versteinern lassen.

Das Paar freute sich über die Einladung zum Dorffest. Das liessen sie sich nicht zwei Mal sagen. Am Abend fanden sich alle Dorf-bewohner auf dem Hauptplatz ein. Dort gab es etwas zu essen und zu trinken. Eine Musikkapelle spielte fetzige Musik. Die Jungen schwangen das Tanzbein, während die älteren an den Tischen vor einem Glas Wein oder Bier sassen und diskutierten. Der Zusam-menbruch des Königreiches war Thema Nummer Eins. Alle freuten sich, dass der böse Herrscher weg war und die Zukunft besser für sie aussah.

Am letzten Tisch sass eine alte Frau ganz alleine. Ihr Gesicht war durch ihr Leid gekennzeichnet. Tiefe Falten standen auf ihrer Stirn. Sie hatte in ihrem Leben viel Leid und Ungerechtigkeit erfahren und lebte seit vielen Jahren einsam am Ende des Dorfes. Sie hatte mit niemandem Kontakt, und im Dorf kannte man sie auch kaum. Es ging ihr offensichtlich nicht so gut. Sie hatte fast kein Geld und hauste in einem herunter gekommenen Haus ohne fliessendes Wasser und Heizung. Doch ihre Trauer sass viel tiefer. Nach einem Leben ins Saus und Braus, hatte sie von heute auf morgen alles verloren was ihr lieb war, den Mann und die Kinder. Doch jetzt, nachdem der König weg war, schöpfte sie Mut. Nun würde alles besser werden.

Ihre Blicke trafen sich für einen kurzen Moment, ein Moment der ihr Leben verändern sollte. Es war wie eine magische Kraft. Konrad und Mia gingen zum Tisch, an dem die alte Frau vor ihrem Teeglas sass. Der alte Mann, den sie auf dem Schloss getroffen hatte, wusste mehr über die Einsiedlerin und hatte Konrad die ganze tragische Geschichte dieser Frau erzählt.

"Guten Abend, dürfen wir uns zu ihnen setzen?" Sie war sehr er-staunt, von Fremden angesprochen zu werden, denn sie kannte ja niemanden. Als sie hochschaute in die strahlend blauen Augen des jungen Mannes, stockte ihr Herz. War das, konnte das wirklich sein, wie war das möglich? Stand wirklich ihr Sohn Konrad vor ihr? Und die Frau neben ihm? Sie war bildhübsch, hatte genauso blaue Augen wie Konrad, und lächelte. "Guten Abend, Mama!" sprach diese. "Ich bin es, Mia, deine Tochter." Aus den tiefliegenden traurigen Augen schossen Freudentränen. Sie kullerten über ihre knochigen Wangen und tropften auf ihr abgetragenes Kleid. "Arme Mutter, was musst du alles mitgemacht haben! Doch nun ist es vorbei." Konrad nahm sie in die Arme und küsste sie auf die Stirn. Auch Mia tat das gleiche. Sie standen noch lange so da, eng umschlungen, ein weinendes Trio. Erst als die Freudentränen versiegt waren erzählte sie ihnen ihre traurige Lebensgeschichte. Sie entschuldigte sich bei ihren Kindern für das, was sie ihnen angetan hatte. Doch Konrad und Mia hatten vom alten Mann bereits erfahren, was wirklich passiert war. Ihre Mutter traf keine Schuld. Sie hatten ihr schon längst vergeben.

Eine Woche später verliessen sie das Dorf. Konrad und seine Mutter zogen zurück ins Schloss, wo sie einst gelebt hatten. Für seine Kollegen, mit denen er bis jetzt gewohnt hatte, hatte er Zimmer eingerichtet, davon hatte es ja genug.

Auch Mia kehrte der Stadt den Rücken. Ihre Stelle im Architek-turbüro hatte sie gekündigt. Sie zog zurück ins alte Bauernhaus, ihrem Elternhaus. Dort hatte sie sich auch ein kleines Architektur-büro eingerichtet und arbeitete nun als selbständige Architektin. Mit ihrer Mutter und Konrad traf sie sich fortan regelmässig. Sie waren so lange getrennt gewesen, das durfte nicht mehr passieren. Zudem hatten sie sich noch so viel zu erzählen.

Das Glück war zurückgekehrt. An einem lauen Sommerabend sass Mia auf der Gartenbank vor ihrem Haus. Auf ihrem Schoss lag der wilde rote Kater und schnurrte friedlich. Auch er hatte sein Glück bei Mia gefunden.

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