Die Mentalistin (ES)
Buch 7
Die Mentalistin (ES)
Nach ein paar nasskalten, ungemütlichen Wochen, war ganz plötzlich der düstere, tiefhängende Wolkenhimmel aufgerissen. Die Sonne war zurückgekehrt und hatte die nun folgenden, spätherbstlichen Tage mit goldenem Glanz übergossen. Verlockt vom überraschend milden Wetter, waren mein Eheliebster Peter und ich an einem Nachmittag zu einem Ausflug auf einen der nahen Höhenrücken aufgebrochen, um von dort oben die Aussicht auf unsere jetzt klar und ohne Nebelhaube daliegenden Hausberge und den Blick auf ihre vorgelagerten Hügel mit ihren bunten Wäldern zu geniessen.
Während Peter unseren alten Passat die kurvenreiche Bergstrasse aufwärts lenkte, betrachtete ich die Umgebung. Dabei erinnerte ich mich an ein Gedicht, das ich mir einmal, inspiriert durch die bunte Pracht des Herbstes, zusammengereimt und dann wieder vergessen hatte. Nun versuchte ich die Verse aus einem fernen Winkel meines Gedächtnisses hervorzuholen und war erfreut, als es mir nach einigen Fehlversuchen gelang.
Blätter gelb und Blätter braun,
reife Äpfel an dem Baum,
rote Beeren an dem Strauch
und dahin im Windeshauch
schwebt Altweibersommer fort.
Eine letzte Rose dort.
Eichhorn trägt die Nüsse ein,
im Gesträuch die Häher schrei'n.
Blau der Himmel und so klar.
Über'm Wald ein Habichtpaar
kreist voll Ruhe hoch und fern.
Herz und Seele werden weit.
Schliessen ein die Herrlichkeit.
Farbe bald den Glanz verliert,
wenn der Tau zu Perlen friert.
An einem günstigen Aussichtsplatz angekommen, parkte Peter den Wagen auf einem schmalen Wiesenstreifen. Wir stiegen aus und sahen uns um. Jenseits des langgestreckten Tales, aus dem wir gekommen waren, lagen unsere Hausberge Schneeberg, Rax, Schneealpe und die Hohe Veitsch zum Greifen nahe vor uns. Auf ihren breiten Rücken und ihren schattigen Mulden lag stellenweise Schnee, der in den Schlechtwetterwochen gefallen war.
Ein frisches Lüftchen blies aus ihrer Richtung. Trotz der wärmenden Sonnenstrahlen fröstelten wir. Langsam schlenderten wir den Höhenweg entlang, den Blick auf unsere Zweitausender gerichtet, die sich uns ohne die kleinste Nebelfahne präsentierten. Nach einer Weile bogen wir in ein Fichtenwäldchen ein. Die Bäume nahmen uns zwar die Sicht auf die Berge, schützten uns aber vor dem immer schärfer wehenden Wind. Die Strasse, jetzt schmal und holprig, war nun kaum besser als eine Traktorspur. An ihrem linken Rand lag, sauber aufgeschichtet, frisch geschnittenes Scheiterholz zum Abtransport bereit.
Wir gingen langsam den harzig duftenden Stapel entlang. Und plötzlich, an seinem Ende, erblickten wir sie. Diese Sie war eine halbwüchsige Tigerkatze mit weissem Kehlfleck und weissen Zehensöckchen. “Wen haben wir denn da?" sagten Peter und ich wie aus einem Munde und blieben überrascht stehen. Die Katze richtete ihr Schwänzchen auf, stieg bedächtig über ein paar niedere Heidelbeersträucher und setzte sich vor uns auf den Weg. Ihre meergrünen Augen waren neugierig auf uns gerichtet. Um sie nicht zu erschrecken, streckte ich langsam und vorsichtig die Hand aus. Erfahrungsgemäss sind freilebende Katzen scheu und lieben es nicht, berührt zu werden.


,,Lauf!" sagte ich und setzte die Kleine auf den Weg. Aber sie machte keine Anstalten, sich in Richtung Bauernhof in Bewegung zu setzen. Sie blieb vor uns stehen und sah uns unentwegt an. Erhoffte sie sich Futter von uns? Da mussten wir sie leider enttäuschen. Wir hatten nichts Essbares auf unseren Ausflug mitgenommen.
Als sie nicht aufhörte uns anzustarren, wandten wir uns ab und gingen den Weg zurück, den wir gekommen waren. Die Kleine trabte wie ein Hündchen neben uns her. Als wir beim Holzstoss ankamen, blieb sie eine Weile stehen und verschwand dann im Wald.
„Sie wird es nicht lange machen", sagte ich traurig. Peter nickte, äusserte sich aber nicht weiter dazu. „Könnten wir nicht morgen wieder herauf fahren und ihr Futter bringen?" fragte ich und dachte dabei an unsere 15 Katzen, die früher auch magere Findelkinder gewesen waren, sich aber im Laufe der Zeit zu recht beleibten Haustigern entwickelt hatten. Peter warf mir einen kurzen Blick zu, seufzte und nickte. Als wir im Wagen sassen, meinte er: „Bist du sicher, dass sie morgen wieder da sein wird?“ „Ihr Schutzengel wird ihr schon sagen, was sie zu tun hat“, sagte ich. Es klang ziemlich kleinlaut, denn so ganz überzeugt, dass unser Vorhaben klappen würde, war ich nun auch wieder nicht.
Am nächsten Nachmittag fuhren wir mit einer Auswahl guter und nahrhafter Katzennahrung die Bergstrasse hinauf. Peter parkte unser Auto wieder auf dem Wiesenstreifen. Wir stiegen aus und gingen die Strasse entlang. Meine Spannung stieg, je mehr wir uns dem Wäldchen näherten. Wir kamen zum Holzstoss und sahen uns um. Sie war nicht da. Meine Kehle wurde eng vor Enttäuschung. Peter blickte suchend den Weg entlang und packte plötzlich meinen Arm. Ein paar Schritte vor uns sass die Kleine im hohen Gras und sah uns an, als hätte sie schon ewig auf uns gewartet.

Beim Holzstoss blieben wir stehen. Auch die Kleine verharrte und sah uns mit weit geöffneten Augen lange an. Als sie keine Anstalten machte zurückzukehren, versuchten wir, ihr mit Worten und Gesten verständlich zu machen, dass sie nicht mitkommen könne. Endlich wandte sie sich ab, stieg über die Heidelbeersträucher neben dem Weg und verschwand im Wald.
Mir wurde das Herz schwer, als ich daran dachte, was aus ihr werden würde. Für diesmal war sie ja satt, aber bald würde sie wieder hungrig sein. Um sich selbst ernähren zu können, war sie noch zu klein. Das bewies ihr erbarmungswürdiger körperlicher Zustand. und dann der Durchfall! wahrscheinlich verursacht durch die Kuhmilch, die sie sich in ihrer Not im Stall erbettelte. Er würde sie völlig schwächen, wenn sie auch weiterhin nichts anderes zu fressen bekam. Armes, kleines Katzenmädchen! Traurig und mit hängendem Kopf folgte ich Peter zum Auto. Als er den Schlüssel ins Schloss steckte, fragte ich verzagt: „Könnten wir nicht morgen noch einmal?“ Peter seufzte tief und nickte Gott ergeben.


Vielleicht würde die Kleine durchkommen, vielleicht aber auch nicht. Sicher aber würde sie von nun an täglich beim Holzstoss sitzen und auf uns warten, um schliesslich enttäuscht und entkräftet aufzugeben. Bei dem Gedanken kamen mir die Tränen. Ich hob die Kleine hoch und drückte sie an meine Wange. Dann setzte ich sie auf den Weg und eilte schnell hinter Peter her, der schon vorausgegangen war.
Mittlerweile war es so dunkel geworden, dass man die Strasse kaum erkennen konnte. Schweigend erreichten wir das Auto. Ich konnte nicht verbergen, wie bedrückt ich war. Aber auch Peter war nicht in bester Stimmung. Umständlich kramte er in seiner Hosentasche nach dem Autoschlüssel. Da fühlte ich plötzlich an meiner Wade eine federleichte Berührung. Ich bückte mich, tastete umher und spürte weiches Haar. Ein Katzenfell! Es war die Kleine, die sich in engen Achterschleifen um meine Beine wand. Jetzt war auch Peter aufmerksam geworden.
Verblüfft und gerührt lauschte er auf das laute Schnurren unserer Freundin, die uns still und heimlich den langen Weg bis zu unserem Auto gefolgt war. Es war klar, dass wir sie, so weit von ihrem vermutlichen Zuhause, nicht zurücklassen konnten. „Und was jetzt?" fragte ich verzagt. Peter sagte nichts. Er schloss den Wagen auf und öffnete die Tür. Die Innenbeleuchtung ging an. Ihr schwacher Schein reichte aus, die Dunkelheit um uns herum so weit zu erhellen, um zu sehen, was nun folgte. Peter bückte sich, hob die Kleine auf, steckte sie vorne in seinen Anorak und zog den Reissverschluss über ihr zu. Ich hielt die Luft an. Gleich würde sie wegen der ungewohnten Enge wild zu strampeln beginnen. Aber nichts dergleichen geschah. Sie drehte sich auf den Rücken, stemmte die Pfoten gegen sein Kinn und begann laut zu schnurren.
Auf der Fahrt nach Hause verhielt sie sich musterhaft. Mir aber gingen sorgenvolle Gedanken durch den Kopf. Peter und ich hatten nämlich schon vor längerer Zeit den Entschluss gefasst, keine junge Katze mehr bei uns aufzunehmen. Wir waren nicht mehr die Jüngsten. Sie würde uns überleben, und was dann? Das vertraute Heim zu verlieren bedeutet für ein Tier immer Kummer und Elend. Wir hatten einmal vor langer Zeit zwei Katzenkinder bei uns aufgenommen, sie erreichten das Alter von zwanzig Jahren. Durften Peter und ich noch auf genug Jahre hoffen, um dem neuen Katzenkind Heim und Sicherheit bis an sein Lebensende garantieren zu können? Wahrscheinlich nicht. Doch was wäre aus der Kleinen geworden, hätten wir uns nicht ihrer angenommen?
Daheim angekommen, trugen wir das neue Pflegekind ins Haus, wo wir bereits ungeduldig von unserer hungrigen Katzenschar erwartet wurden, denn die gewohnte Zeit der abendlichen Fütterung war schon bei weitem überschritten. Die Kleine sass ruhig, aber spürbar angespannt, auf Peters Arm und starrte hinunter auf das miauende, pelzige Gewimmel zu seinen Füssen. Hatte sie Angst oder war sie nur verwirrt? Wir hielten es jedenfalls für besser, ihr an diesem Tag weiteren Stress zu ersparen. Sie sollte erst einmal zur Ruhe kommen, ehe sie offiziell unseren Haustigern vorgestellt wurde.


Jetzt war sie bereit, ihr neues Zuhause zu erkunden. Wie selbstverständlich stieg sie hinter uns die Treppe hinunter und folgte uns in die Küche, wo ein paar alteingesessene Haustiger faul herumlungerten. Wir warteten gespannt, wie die Kleine diese Situation meistern würde. Zu unserer Verwunderung tat sie gar nichts. Sie setzte sich auf ihr mageres Hinterteil, blickte interessiert in die Runde und wartete ab. Unseren beleibten Hausgenossen starrten das pelzige Nichts misstrauisch an. Ein paar Schwanzspitzen zuckten irritiert, ein paar Nasen hoben sich schnuppernd, und ein paar Ohren drehten sich aufmerksam hin und her. Das war alles. Es verging kaum eine Minute, da brach der Blickkontakt auch schon wieder ab. Man ging zur Tagesordnung über. Es lohnte sich einfach nicht, dieses klapperdürre Wesen weiter zur Kenntnis zu nehmen. Erst jetzt erhob sich die Kleine, durchquerte die Küche, näherte sich unserem schwergewichtigen rotweissen Tigerkater Rocko und berührte mit ihrem braunen Näschen die rosige Nase des völlig Verblüfften. Sollte das ein Küsschen gewesen sein? Nun, wenn schon nicht ein Küsschen, so doch ein Ausdruck von Zuneigung. Später stellte sich heraus, dass es bei beiden Liebe auf den ersten Blick war. Er war und blieb auch später ihr erkorener Freund.
In den folgenden Wochen wurden sie richtige Spielgeführten und trugen sogar Scheinkämpfe aus. Es wirkte herzerfrischend komisch, wenn die kleine Zarte um den bequemen Dicken herumtanzte und ihm mit flinken Pfoten spielerische Ohrfeigen verpasste. Er erwiderte sie nie, sondern wehrte sie nur mit gutmütiger Tapsigkeit ab. Zu faul, um das Spiel längere Zeit durchzuhalten, beendete er es meist, indem er sich mit seinem Sumoringergewicht über sie wälzte und ihren Körper unter sich begrub, worauf sie sich quiekend freistrampelte und mit gespieltem Entsetzen floh. Jetzt waren die Beiden allerdings noch nicht so weit. Sie waren vorläufig vollauf damit beschäftigt, den Duft des noch unbekannten Gegenübers aufzunehmen und im Gedächtnis zu speichern. Peter und ich wechselten einen zufriedenen Blick. Es hätte nicht besser kommen können. „Und wie soll sie heissen"? fragte ich. ,,Babsi", kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen.
Am ersten Tag war Babsi ganz damit beschäftigt, das Haus mit all seinen Räumlichkeiten zu erkunden. Am zweiten verlangte sie energisch hinaus. Ich war viel zu besorgt, um ihr das zu erlauben. Sie hätte ja vor irgendetwas erschrecken, davonlaufen und dann in der ihr fremden Gegend völlig orientierungslos herum irren können. Am liebsten hätte ich sie sowieso ein paar Tage im Blumenzimmer kaserniert, um sie ans Haus zu gewöhnen. Davon aber wollte Babsi nichts wissen. Sie miaute und kratzte so energisch fordernd an der Tür, dass ich ihr schweren Herzens den Willen liess. Ich öffnete, und sie marschierte im Eiltempo hinaus, stieg in ein herbstlich brachliegendes Gemüsebeet, schaufelte eine Grube, setzte sich darauf, verrichtete ihr Geschäft, erhob sich und scharrte einen sauberen Erdkegel darüber. Dann schüttelte sie ihre Hinterbeine, um sie von allen sandigen Bestandteilen zu befreien und ging auf Erkundungstour. Grasbüschel, Sträucher und Beetumrandungen wurden beschnuppert und auf Duftspuren untersucht. So kam sie zur Thujenhecke, die die Grenze zwischen unserem Grundstück und dem des Nachbarn bildet. Zu meiner Erleichterung schlüpfte sie nicht hindurch, sondern ging an ihr entlang. Sie kam zum Gartenhäuschen, kontrollierte den Zaun, hinter dem auf der noch immer saftig grünen Wiese ein paar Kühe weideten und hatte plötzlich genug. Sie stapfte durchs feuchte Gras auf die offene Tür zu, vor der ich besorgt beobachtend stand, und schlüpfte ins Haus. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Ihr Verhalten stärkte mein Vertrauen so weit, dass sie sich von da an draussen ebenso frei bewegen durfte wie alle anderen Katzen.
Ihre Lernfähigkeit war beachtlich. Schon nach ein paar Tagen hörte sie auf ihren Namen, kam folgsam angerannt, wenn ich sie rief, nahm ihr Belohnungsleckerli in Empfang und verzog sich wieder. Sie liebte ihr neues Daheim und entfernte sich nie weit von Haus und Garten.
Das ist bis heute so geblieben, obwohl seit damals fast drei Jahre vergangen sind. Wenn wir mit den anderen Katzen zu einem kurzen Spaziergang aufbrechen, schliesst sie sich uns nur zögernd an. Sie trottet völlig verunsichert mit buschigem Schanz hinter uns her und wirft alle paar Schritte einen Blick zurück, als habe sie Angst, ihr Daheim könne sich während ihrer Abwesenheit in Luft auflösen.








Die Füchsin sprang auf den Boden und setzte sich in Richtung Komposthaufen in Bewegung. Jetzt kam Babsi unter dem Tisch hervor, stakste steifbeinig, mit wütend gesträubtem Fell und dick aufgeplustertem Schwanz in kaum drei Meter Entfernung hinter ihr her. Mir klopfte das Herz bis zum Hals. Katzen gelten ja allgemein als Beutetiere dieser Räuber. Aber die alte Dame warf keinen Blick zurück, sondern trottete weiter in die von ihr eingeschlagene Richtung. Kurz darauf verschwand sie samt ihrer Verfolgerin aus unserem Blickfeld. Was mochte sich wohl ereignen? Ganz offensichtlich nicht das, was wir befürchteten, denn Babsi sass wenig später in Siegerpose vor der Terrassentür, sichtlich stolz, den Feind vertrieben zu haben.
Seit damals habe ich Angst um sie. Anscheinend fühlte sie sich wirklich so stark, dass sie glaubte, mit jeder Gefahr fertig werden zu können. Was würde aber geschehen, wenn sie einmal dem Jagdhund des Försters in die Quere käme? Der würde, anders als die Füchsin, keine Gnade walten lassen. Gegenwärtig hat unser Liebling ja noch uns, ihre besorgten menschlichen Leibwächter. Aber unsere Möglichkeiten sind begrenzt. Wir können sie nicht jede Minute ihres Lebens im Auge behalten. Das gelingt nur einem überirdischen Wesen, wie ihr Schutzengelchen eines ist. Doch das ist noch jung und recht verspielt. Wir haben deshalb berechtigte Zweifel, ob es seiner schwierigen Aufgabe gewachsen ist. Andererseits hat es sich bisher in einigen heiklen Situationen als durchaus verantwortungsbewusst erwiesen, denn ganz ohne himmlische Hilfe wäre Babsi wohl nicht gerettet worden. Wir hoffen daher, dass es uns gemeinsam gelingen wird, unser Katzenmädchen so lange vor Gefahren zu behüten, bis es genug Lebenserfahrung gesammelt hat, um sich selber zu schützen.