Ein fataler Fehler
Buch 5
Ein fataler Fehler
Sie war die Schönste, und das wussten alle. Und diese Tatsache war sogar in einer Urkunde eingetragen. "Snowbell della Luna von Inch Allah's" war ihr richtiger Name. Der war ihr jedoch viel zu lange, und sie nannte sich schlicht und einfach Snowbell. Sie war blendend weiss und trug eine dunkle Gesichtsmaske. In Züchterkreisen wurde die Zeichnung der schönen Heiligen Birma "chocolate-point" genannt. Ihr Fell war weich wie Watte und hüllte ihre schlanke Figur in Flaum ein. Aus ihrer dunklen Maske schauten zwei kristallblaue Augen hervor, typisch für Heilige Birmas.

Daheim war sie keineswegs ein Champion. Wenn sie mit den anderen Katzen zusammen war, vergass sie den Ausstellungsstress. Dann war sie einfach eine liebe, verschmuste Katze, die gerne spielte.

Als auch Jaicka gross genug war und nicht mehr ständig am Schwanz der Mutter hing, erwachte in ihr die Abenteuerlust. Bei ihr daheim gab es einen grossen, jedoch ausbruchsicheren Laufkäfig im Garten. Dort verbrachte sie die warmen Frühlingstage, immer mit Blick nach draussen, wo die Vögel ihre Frühlingskonzerte abhielten. Wie gerne wäre sie doch einmal durch den Garten geschlendert und hätte ihre Nase in die Blumen gestreckt. Sie sass im Freigehege und sehnte sich danach, durch das üppige Gras zu schlendern und sich die ersten Sonnenstrahlen auf den Pelz scheinen zu lassen.
Eines Tages, als ihr Herrchen einen Moment nicht aufpasste, entwischte sie ihm. Sie rannte davon, hinein in die grüne Wiese, die sie seit Wochen inspiziert hatte. Er sah nur noch ihren dunklen Schwanz, der aus der hoch stehenden Magerwiese herausschaute. "Ups", dachte er "hoffentlich kommt die Schöne wieder". Er liess deshalb die Türe einen Spalt offen und war sich sicher, dass sie nach ihrem Ausgang den Weg nach Hause wieder finden würde.
Am Abend kehrte sie nicht zurück, ebenso blieb es am darauf folgenden Tag. Allmählich wurden die Besitzer unruhig. Wo war Snowbell geblieben? Nach einer Woche setzten sie eine Suchmeldung auf und informierten die Polizei. Bestimmt würden sie ihre Katze wieder finden, denn sie war ja mit einem Microchip versehen und registriert. Sie waren sich sicher, dass dies nur ein kurzer Albtraum sei und dass Snowbell schon bald wieder daheim sein würde.
Die Wochen und Monate vergingen. Snowbell tauchte nicht mehr auf. Die Familie musste mit der schrecklichen Erkenntnis leben, dass sie Snowbell verloren hatten.
50 Kilometer weiter sass eine schneeweisse Katze im Feld und schnappte sich eine Feldmaus, die unvorsichtig war. Ihre Füsse waren leicht geschwollen, denn ihre zarten Zehen waren sich nicht gewohnt, einen so langen Spaziergang zu machen. Zudem war sie keine gute Jägerin und unter ihrem flauschigen Fell sah man nur noch Haut und Knochen. Sie war am Verhungern.
Da erinnerte sie sich daran, dass die Menschen ihr bisher immer geholfen hatten. Sie setzte sich vor eine Tür und stimmte in einen jämmerlichen Gesang ein. Am ersten Haus hatte sie damit keinen Erfolg. Statt einem Happen Futter erntete sie einen Kessel Wasser. Sie schlich weiter, von Haus zu Haus. Irgendwo würde sie bestimmt einen Menschen finden, der ihr etwas Futter spendierte. Es dauerte aber noch Tage, bis Snowbell endlich fündig wurde.



Als die ersten Frühlingsboten aus dem Boden schossen, kam auch Snowbells Rolligkeit zurück. Der Katzenjammer ging von vorne los. Doch dieses Mal nützte auch Einsperren nichts. Kaum war die erste Hitze in der kleinen Katze verschwunden, kam bereits der nächste Schub. Sie war nicht mehr die Gleiche, unausstehlich und laut. Jens konnte nachts nicht mehr schlafen, denn die Weisse schrie aus Leibeskräften. Vor der Wohnung versammelten sich bereits sämtliche Kater der Region und stimmten ein Lied an. Es war eine fürchterliche Zeit für das Duo. Jens war am Ende. Er musste eine Entscheidung treffen, auch wenn ihm das sehr schwer fiel. Irgendwann musste er ja wieder schlafen können.
Er brachte seine schöne Freundin zu seiner Mutter, die eine Stunde entfernt wohnte. Sie hatte mehr Erfahrung mit Katzen und würde bestimmt eine Lösung finden. Mit einem schlechten Gewissen verabschiedete er sich von der Katze, die ihm die letzten Monate versüsst hatte und ihm eine liebe Freundin gewesen war.
Mama Beate nahm das Tier in die Arme. Sie wusste, dass die Katze ihrem Sohn über die letzten schweren Monate hinweg geholfen hatte. Nun würde sie dem Tier helfen. Snowbell durfte bei Beate bleiben. Bald erkannte die Frau, dass die Weisse einfach nur rollig war. Sie ging zum Tierarzt, der in der Nachbarschaft seine Praxis hatte, und holte die Pille für die Katze. Diese würde sie der Weissen vorerst mal geben. Eine Dauerlösung war das aber nicht, das wusste Beate. Sie hatte schon davon gehört, dass diese Hormonpräparate auch Schaden zufügen konnten. Doch für den Moment müsse sie damit klar kommen.
Snowbell war auf der einen Seite traurig, dass Jens sie verlassen hatte, auf der anderen Seite aber froh, dass ihre Rolligkeit nachgelassen hatte. Auch für sie war ihre Unruhe unangenehm gewesen. Mit Beate verstand sie sich recht gut, auch wenn zwischen ihnen nicht die gleiche Bindung entstand wie zwischen Jens und ihr. Immerhin bekam sie regelmässig Futter und ab und zu ein paar Streicheleinheiten. Beate war eine sehr aktive Frau und abends nur selten daheim. Dann lag Snowbell auf dem Sofa und schlief. Sie ging nur selten nach draussen. Von Monat zu Monat wurde sie trauriger. Plötzlich sehnte sie sich danach, wieder daheim, bei ihren Freundinnen und ihrer Tochter Jaicka zu sein. Was hatte sie nur gemacht? Wieso war sie denn weggelaufen? Wo war sie denn nur?
Wenige Tage später stellte Beate eine Transportkiste hin, die sie sich von Nachbarn ausgeliehen hatte. Die Pille war keine Lösung. Deshalb hatte sie Snowbell zur Sterilisation angemeldet. Sie wurde ins Auto verfrachtet und in die Praxis gebracht.
Wie erstaunt war aber die Tierarzthelferin, als sie die Katze sah. Sie hatte bereits von der Geschichte erfahren, wie Snowbell bei Jens im Garten stand und nun bei Beate Unterschlupf gefunden hatte. Und diese Katze soll eine wilde Katze gewesen sein? Nein, das konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen. Eine so schöne Katze hatte sie ja noch gar nie gesehen. Die stahlblauen Augen der Birmakatze schauten sie fragend an. Im ersten Moment wusste die Praxisassistentin gar nicht, was sie tun sollte. Es wäre nun an der Zeit gewesen, die Katze für die Operation vorzubereiten. Doch irgendwas stimmte da nicht. Sie hatte ein ganz eigenartiges Gefühl in der Magengegend. Noch einmal schaute sie die Suchmeldungen der letzten 12 Monate im Computer durch. Nein, in ihrer Gegend wurde keine weisse Katze gesucht. Wie konnte das nur sein, dass niemand ein so edles Tier vermisste?
Ihr Chef schaute bereits ungeduldig. Es standen heute einige Operationen an und er wusste nicht, was seine Helferin von den Vorbereitungen abhielt. Da kam ihr die rettende Idee. Sie nahm ein kleines Gerät aus der Schublade und schaltete es ein. Mit dem Ding, das einer Lampe ähnelte, glitt sie der Katze über die Schulter. Ein kleines Licht blitzte auf und die Nummer "756097200041501" erschien auf dem Display. Sie konnte kaum fassen, was sie da sah. Die Katze war mit einem Chip versehen und niemand hatte es gemerkt. Der Tierarzt, den Jens damals konsultiert hatte, musste einen fatalen Fehler gemacht haben. Er hätte bereits merken müssen, dass die Katze gekennzeichnet war. Sofort nahm sie Kontakt mit der Meldestelle auf. Sie wollte wissen, wem die Katze gehörte.
18 Monate nach dem Verschwinden der schönen Snowbell erhielt Tamara einen Anruf. Ihre Katze war 150 km entfernt aufgetaucht, wohlauf und unversehrt. Sie stand wie erstarrt im Flur, noch immer den Hörer in der Hand. Nein, so etwas konnte doch gar nicht sein. Sie setzte sich sofort ins Auto und fuhr gegen Norden. Mit jedem Kilometer, den sie hinter sich brachte, dachte sie darüber nach, wie weit doch ihre Katze gelaufen war. Und nun dürfe sie das Tier endlich wieder nach Hause holen.
Das Wiedersehen war filmreif. Als Tamara die Weisse sah, wie sie verloren im Behandlungszimmer sass, konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie schloss ihr Schätzchen in die Arme und drückte es fest an ihre Brust. Snowbell wurde mit Küssen übersäht. Sie erkannte ihr Frauchen sofort wieder und war einfach nur glücklich, dass ihre lange Reise endlich vorbei war. Bald würde sie wieder mit ihrer Tochter vereint sein. Und eines war sicher. Nie mehr würde sie davon laufen. Die letzten eineinhalb Jahre waren ihr eine Lehre gewesen. Von jetzt an würde sie wieder eine folgsame Katze sein.
Wenige Monate später, als Snowbell die Spuren der langen Reise abgelegt hatte und ihr Fell wieder prachtvoll und strahlend weiss geworden war, durften sie und ihre Tochter an einer Ausstellung teilnehmen. Was ihr früher langweilig vorkam, fand sie heute wunderschön und interessant. An diesem Tag erhielt sie den Preis für die schönste Katze ihrer Art. Ausschlaggebend waren ihr wunderschönes Fell und das weisseste Weiss. Sie war stolz wie noch nie. Wenn die Richter gewusst hätten, dass sie die letzten eineinhalb Jahre in der freien Natur gelebt und alles andere als ein weisses Fell gehabt hatte. Sie lächelte still, als man ihr einen Pokal und eine Urkunde überreichte. Manchmal ist das Leben halt schon verrückt.