Emsy träumt
Buch 4
Emsy war nur halbwach. Die Schmerzmittel wirkten. Dennoch musste er etwas lächeln, als er an all diese Erlebnisse dachte. Er war eben ein total verrückter Kerl.
So wie man Emsy ins Tüz brachte, fuhr auch Tina von der Arbeitsstelle los. Sie wollte mit den Aerzten sprechen, wollte ihren Rat. Dort angekommen, lag Emsy noch halb betäubt auf dem Behandlungstisch. Nun sah sie seine Wunden. Er sah kärglich aus mit seinem eingebunden Bein und seinem verdrehten Becken. Er sah sie an, flehte sie mit halbgeöffneten Augen an. Er bettelte um sein Leben.
Auch dieser Arzt stellte fest, dass die Verletzungen schwerster Natur waren. Allerdings hatte er ein bisschen weniger Bedenken als der erste Tierarzt. Emsy war ein kräftiger und gesunder Kerl ohne irgendwelche anderen Leiden. Sein Herz war in Ordnung, sein Kopf unversehrt. Wenn die Nerven und die Blase intakt waren, wollte man es mit einer Operation versuchen. Als Emsy diese Worte hörte, pochte sein Herz ganz wild. Auch Tinas Puls ging allmählich langsamer. Hoffnung schwebte im Raum. Man wollte Emsy über die Nacht beobachten und - falls möglich - am nächsten Tag operieren. Allerdings musste der Arzt Tina darauf aufmerksam machen, dass eine solche Operation Stunden dauern würde und auch entsprechend teuer sei. Tina war auf vieles gefasst, doch der Betrag, den man ihr nannte, riss ihr fast die Füsse unter den Beinen weg. Ja, nun würde sie halt auf die Ferien verzichten, wenn Emsy nur leben könnte. Als sie Emsys Augen sah, mit denen er sein Frauchen flehend ansah, war ihre Entscheidung absolut klar. Sie willigte zur Operation ein. Danach verabschiedete sie sich von ihrem Freund und ging voller Hoffnung nach Hause.
Die Freundinnen bei der Firma DPD waren überglücklich, als sie von der guten Nachricht hörten. Dennoch wussten auch sie, dass die Gefahr noch nicht gebannt war. Noch konnte vieles schiefgehen.
In dieser Nacht dachten viele Menschen an den kleinen Emsy, der im Tüz auf seine Operation wartete. Tina konnte kaum schlafen, dachte immer wieder an die schönen Momente, die ihr Emsy beschert hatte. Seit langer Zeit betete sie wieder einmal und sandte Franz von Assisi, dem Beschützer der Tiere, eine Nachricht. Er solle doch seine schützenden Hände über ihren Emsy legen. Sie war überzeugt, dass ihr Gebet erhört werden würde.
Auch Tanja, Bettina, Carola, Jasmine und die anderen DPD-Freunde hatten eine unruhige Nacht. Auch sie weinten, wenn sie daran dachten, dass Emsy die Operation vielleicht nicht überstehen würde. Doch in allen schwebte Hoffnung. Sie glaubten an die Gerechtigkeit. Emsy hatte niemandem was zuleide getan, hatte den Menschen bisher nur Freude gebracht mit seiner anhänglichen und anschmiegsamen Art. Manchmal nannten sie ihn „Emsy den Jäger“ oder „Emsy die Schlafmütze“, nun nannten sie ihn „Emsy den Kämpfer“ und wünschten ihm viel Kraft. All ihre Gedanken waren bei ihm.
Am nächsten Tag herrschte bei Tina und auch im Büro der DPD grosse Anspannung. Die Frauen arbeiteten ruhig. Man sprach kaum miteinander. Es lag ein Knistern in der Luft, alles war anders als sonst. Das Körbchen, in dem Emsy sich normalerweise räkelte, stand leer. Jedes Mal wenn man am leeren Futternapf vorbei ging, spürte man, dass etwas fehlte. Es war kalt. Jede hatte Angst, doch keine sagte was. Man sprach nicht darüber, obwohl man in Gedanken bei ihm war. Es dauerte lange, fast unendlich lange. Die Zeiger der Uhr bewegten sich viel zu langsam. Noch immer keine Nachricht aus dem Tüz. Was das wohl zu bedeuten hatte?
Im Tüz hatte Emsy die Nacht gut überstanden. Gott sei Dank waren Nerven und Blase in Ordnung. Nun wurde alles für die Operation vorbereitet. Emsy wurde in einen tiefen Schlaf gelegt, denn die Operation würde zwei bis drei Stunden dauern. Da lag er nun, halb geschoren, auf dem Operationstisch und wartete auf ein Wunder. Die Narkose war tatsächlich sehr stark und für einen Moment dachte Emsy, dass es nun vorbei sei. In seinem Tiefschlaf fühlte er sich schmerzfrei. Er spürte seine kaputten Glieder nicht mehr. Stattdessen sah er einen Lichtstrahl, auf den er zulief. Vor ihm lag die Pforte zum Katzenhimmel. Er war in den letzten Tagen schon mehrmals durch diese Pforte gegangen. So schritt er auch heute in den Garten Eden.

Nachdem Emsy sich satt gegessen und etwas geschlafen hatte, ging er mit Shila auf Entdeckungstour. Sie zeigte ihm den kleinen Bach hinter dem Kornfeld und das kleine Waldstück, in dem es viele Schattenplätze gab. Dahinter lag eine alte Stadt aus der römischen Epoche. Es war eine Art Geisterstadt. Die leerstehenden Häuser waren halb zusammengestürzt. Uebriggebliebene Mauern und halbhohe Tempelsäulen ragten gespenstisch zum Himmel. Es gab riesengrosse Felsbrocken, die überall verstreut auf dem Feld lagen. Darauf schliefen Katzen in allen Farben, die sich sonnten. In einem kleinen halbzerfallenen Raum tobten junge Katzenbabies mit ihrer Mutter herum. Es war ein ein friedliches Treiben. Emsy war glücklich und schmerzfrei.

Shila schmiegte sich dicht an ihn. Sie war stolz und glücklich, dass Emsy sie im Katzenhimmel besucht hatte. Nun wollte er noch mehr von ihr wissen. Sie sollte ihm von den Freunden hier erzählen. Sie schnurrte ihm ins Ohr, erklärte ihm, wie es im Katzenhimmel zuging. Ihre Stimme wirkte sehr beruhigend. Was sie da erzählte, war wunderschön, Nun wusste er, dass es nicht schlimm war, wenn man die Erde verlassen musste.
Als Emsy nach der dreistündigen Operation wieder zu sich kam, fühlte er sich elend. Er hatte grossen Durst und noch immer Schmerzen. An seinen Flanken entdeckte er lange Schnitte. Nun wusste er, was für Schnitte er da oben gespürt hatte. Allerdings musste er feststellen, dass das Bein wieder in seiner ursprünglichern Halterung sass. Igitt, wie sah er denn aus? Sein ganzes Hinterteil war geschoren. Er sah ja aus wie ein kleines Schweinchen. Sein linkes Hinterbein war dick und fest eingepackt. Allmählich kam er wieder zu sich. Auch wenn er noch alles verschwommen wahrnahm, fühlte er die freundlichen Hände, die nach ihm griffen. Eine Frau sprach mit sanften Worten auf den tapferen Kerl ein. An seiner Vorderpfote hing ein Schlauch, durch den Flüssigkeit in seine Adern floss. Diese Flüssigkeit brachte ihm Erleichterung. Die Schmerzen liessen wieder nach und er schlief langsam ein.

Endlich, nach mehr als 28 Stunden Wartezeit, klingelte das Telefon bei Tina. Emsy hatte die Operation gut überstanden. Wenn er nicht noch einen unerwarteten Rückfall erleidet, wird er vermutlich wieder gesund. Allerdings machte das verletzte Bein den Aerzten sehr zu schaffen. Dieses war derart zerschunden, dass es etliche Wochen ginge, bis er es wieder benutzen konnte. Fraglich war auch, ob die Wunde tatsächlich so sauber war wie man sie vorfand, oder ob sich noch eine Infektion ergeben würde. Trotz diesem Wenn und Aber und einer ungewissen Zukunftsperspektive, war Tina ein Stein vom Herzen gefallen. Sie informierte sofort die Freundinnen in der Firma DPD über den Verlauf der gelungenen Operation. Gross war auch die Freude dort und man beschloss, Emsy am kommenden Tag besuchen zu gehen. Natürlich würde es noch viele Tage dauern, bis Emsy aus dem Tierspital entlassen würde, doch nun war erstmals nur wichtig, dass der tapfere Kerl wieder gesund würde.

So bekam Emsy jeden Tag Besuch. Seine DPD-Freundinnen gingen über die Mittagszeit zu ihm. Da lag er nun, noch immer schwerst handicapiert, und schnurrte vor sich hin. Er freute sich sehr, als er seine Tagesmuttis begrüsste. Er war ihnen unsagbar dankbar und zeigte es ihnen mit unendlichem Schnurren. Meist kam auch noch Bettina zu Besuch. Auch sie blieb meistens eine Stunde, streichelte den kleinen Emsy und sprach mit ihm.


Nach etwa vier Wochen kamen Emsys Lebensgeister wieder. Er war kaum mehr haltbar in der Wohnung. Er hatte es satt, den ganzen Tag rumzusitzen. Dazu kam noch, dass draussen die Sonne schien. Es war Hochsommer und Emsy hätte sich liebend gern in die Sonne gelegt. Ohne Aufsicht war das aber nicht möglich, denn kaum schnupperte Emsy den Duft des Grases, zog ihn sein Instinkt nach draussen. War er mal dort draussen, versuchte er sofort, in Richtung DPD abzuwandern. Diese Firma war wie ein Magnet für ihn. Er hätte viel darum gegeben, bei seinen Freundinnen zu sein.
Tina konnte seinen Wunsch verstehen. Um ihm den „Hausarrest“ etwas erträglicher zu machen, lud sie seine Freundinnen zu sich ein. Gross war da die Freude, als Emsy seine Tagesmütter zum ersten Mal wieder sah. Nun wurde er wieder liebkost. Er durfte seinen grossen Kopf an ihre Stirn drücken. Mit ihren Fingern strichen sie ihm durchs Haar.
Auch wenn sie im ersten Moment Angst hatten, ihm wehzutun, genoss er ihre Aufmerksamkeit. Tina übergab ihnen einen Hausschlüssel. So konnten sie in ihrer Znüni- oder Mittagspause ganz unabhängig zu Emsy gehen. Dieses Angebot nutzten sie auch regelmässig. Der kleine Kater bekam mehr Besuch als manche Menschen im Spital. Nebst den Frauen der DPD kam auch regelmässig Dana zu Besuch. Das sechsjährige Nachbarsmädchen genoss es, den braven Emsy zu streicheln. Auch er mochte sie sehr. Sie spielten oft lange zusammen. Manchmal brachte sie ihm Leckerbissen, Spielmäuse oder gutes Fressen. Sie kam fast jeden Tag, wollte mitverfolgen, wie Emsy wieder gesund wurde. Er war der absolute King, umworben von den sieben nettesten Frauen dieser Welt. Mancher Mann hätte viel darum gegeben, an Emsys Stelle zu sein.



Emsys Frauen waren überglücklich. Emsys Leidenszeit war vorbei. Man wollte diesen Tag feiern. Tina lud zum Gartenfest ein. Dies sollte der Tag sein, an dem Emsy seine Freiheit wieder fand. Nachdem die Frauen ihn mit Küsschen und Streicheleien übersät hatten, nahm man ihm die Leine ab. Nun war er wieder frei und durfte die Wege einschlagen, die er wollte. Schnurstracks ging er Richtung DPD. Doch nach kurzer Zeit wurde Emsy müde. Seine Hüfte und sein Hinterbein waren noch nicht stark genug, um den langen Weg zu gehen. Er legte sich bei der Baustelle um die Ecke hin und schaute in den Himmel. Dort machten Vögel ihre Runden. Die Sonne wärmte sein samtenes Fell. Er war unsagbar glücklich. Die Frauen hatten ihm das Leben gerettet. Er würde ihnen bis ans Ende seiner Tage dankbar sein.
Es dauerte noch Wochen bis Emsy so genesen war, dass er die lange Reise von daheim zur DPD auf sich nehmen konnte. Er brauchte Stunden, bis er vor der Türe stand, zu der er sich Monate zuvor unter Höllenschmerzen mit zerschmetterter Hüfte gerettet hatte. Er hörte die Stimmen seiner Freundinnen, die bei der Arbeit waren. Sie wussten, dass Emsy fast wieder gesund war und hofften insgeheim, dass er daheim bei Tina und seinen Geschwistern war. Es war jedem klar, dass Emsy auf dem Weg zur Firma DPD die Hauptstrasse überqueren musste und jedes Mal der Gefahr ausgesetzt war erneut überfahren zu werden. Auch wenn es ihnen weh tat, hofften sie, dass er nun daheim bleiben würde an dem Ort, an dem ihm nichts passieren konnte.

Am Abend, als die Bürotür ins Schloss fiel, legte sich Emsy in die Schlafhöhle, in die er sich über die Nacht zurückziehen konnte. Es war eine laue Spätsommernacht und über ihm standen der Mond und die Sterne. Es waren tausende, nein Millionen von Lichtern, die über ihm blitzten. Nachdem er bereits zwei Pfoten im Katzenhimmel gehabt hatte, kannte er ihr Geheimnis. Was da oben am Himmel glänzte, waren die reflektierenden Augen seiner Katzen-Schutzengel. Sie passten auf ihn auf, zeigten ihm den Weg und sorgten dafür, dass er heil und gesund nach Hause kam