Sina und Luska, wie alles begann
Buch 1

Sie wurden in der Natur geboren, unter dem Dach des Schweinestalles. Ihre Mutter, eine getigerte Hauskatze, bekam in diesem Jahr bereits zum zweiten Mal Nachwuchs. Sie umsorgte ihre Kleinen fürsorglich und versteckte sie gut vor dem Bauern. Sie hatte gehört, dass es Bauern gab, die junge Katzen töteten. Sie wachte ausgezeichnet über die Kleinen und liess niemanden zu nahe an sie ran. Es waren vier Kätzchen, ein komplett schwarzes, zwei dunkel getigerte und ein rot/braunes Schildpatt-Kätzchen. Schon als kleines Kätzchen war das vierfarbige auffallend hübsch. Es sah aus wie ein Herbstwald in seinen prächtigsten Farben. Sie nannte es Luska. Wer ein so extrem schönes Fell hat, sagte sie sich, sollte auch einen extrem interessanten Namen bekommen. Das schwarze Kätzchen hiess Sina, für die getigerten musste sie sich erst einen Namen ausdenken.

Schon bald konnten die Kleinen laufen und mit ihr den Dachstock verlassen. Sie folgten ihrer Mama runter auf die Wiese. Dort lehrte sie die Kleinen, was sie für die grosse Welt brauchten. Sie brachte ihnen das Mäusefangen bei und zeigte ihnen, wie man sich vor den Menschen verstecken konnte. Vom Bauern bekam sie regelmässig Käse und Milch. Dennoch brachte sie die Jungen immer in Sicherheit. Sie war sehr vorsichtig. Als ihr Nachwuchs schon recht frech und verspiel twar, kamen zwei Personen auf den Hof, die sich die Kätzchen ansehen wollten. Sie mussten die spielende Familie von weitem beobachten, denn die Katzenmutter liess die Fremden nicht zu nahe an ihren Nachwuchs ran. Dann verschwanden die beiden wieder und Sina und Luska durften noch einige Wochen bei ihrer Mama und den Geschwistern bleiben. Sie wurden grösser und selbständiger und brauchten ihre Mama nicht mehr. Sie stiess sie weg und erklärte ihnen, sie müssten nun ihren eigenen Weg gehen.

Luska und Sina kamen zu Tina, so hiess die Dame, die sie eingefangen hatte. Sie wohnte in Stadtnähe in einer riesengrossen Wohnung. Sie freute sich sehr auf die kleinen Stubentiger und hatte alles gut vorbereitet. Es standen bereits mehrere Futternäpfe da, die nach frischem Futter rochen. Obwohl ihnen der wohlriechende Duft in die Nase stieg, versteckten sich die Kätzchen unter dem Sofa. Und so blieb es auch, tagelang, wochenlang, monatelang. Wenn Tina von der Arbeit nach Hause kam, konnte sie zwar feststellen, dass die Kleinen gegessen und das Klo benutzt hatten, hatte aber keine Chance, mit ihnen zu spielen oder sie auf die Arme zu nehmen. Luska und Sina kannten bis anhin den Menschen nur als Gefahr. Sie hatten gelernt, jeden Kontakt zu vermeiden und sich vor ihm zu verstecken. Und dies beherrschten sie ausgezeichnet. Tina suchte die Kleinen unentwegt, schaute unter den Schrank, das Sofa, den Tisch. Alle Mühe und gutes Zureden nützten nichts, die Kätzchen blieben unzugänglich und scheu.
Wenn Tina abends nach Hause kam, fragte sie sich immer, was sie den ganzen Tag hindurch wieder angestellt hatten. Oft musste sie die Kleinen zuerst suchen. Sie konnten sich in den kleinsten Winkeln verstecken. Sinas Lieblingsversteck war das Büchergestell, auf dem mehrere Reihen Bücher standen. Zwischen Buch und Wand gab es eine kleine Luke, in der sie sich verstecken konnte. Wenn Tina nach ihr rief, blieb sie ganz ruhig, damit sie nicht entdeckt wurde. Dies hatte sie von ihrer Mutter gelernt. Die ersten Wochen blieb das auch so und Tina war ratlos. Sie kannte die beiden nur von weitem. Tinas Aufgabe bestand darin, Dosen aufzumachen und hinzustellen und das Katzenklo zu säubern. Spielen konnte sie mit den Samtpfötchen eigentlich nur auf Distanz. Sie sprangen zwar den Bällen nach, die Tina ihnen brachte, doch berühren liessen sie sich nicht.

Tina sprach mit ihnen, damit sie ihre Stimme kennenlernten. Sie versuchte immer wieder, sich ihnen zu nähern und bekam regelmässig eine Abfuhr. Es war zum Verweifeln, die schönsten Momente mit jungen Katzen konnte niemand richtig geniessen.
Eines Tages, als sie sie über eine halbe Stunde vergeblich gesucht hatte, bekam es Tina mit der Angst zu tun. Ob sie wohl versehentlich die Türe oder das Fenster offengelassen hatte? Sie rief nach ihnen, schaute in jeder Nische nach, sie waren nicht mehr da. Da hörte sie aus dem Badezimmer ein leises Piepsen. Als sie die verschlossene Türe öffnete, sassen Luska und Sina unversehrt im Lavabo. Mit riesengrossen Augen schauten sie Tina an, deren Erleichterung unübersehbar war. Beim Rumtoben rannten sie ins Badezimmer und stiessen von innen die Türe zu, die ins Schloss fiel. So waren sie den ganzen Nachmittag eingesperrt und legten sich deshalb aneinander gerollt ins Lavabo, wo Tina sie Stunden später fand.
Die Sucherei gehörte zum täglichen Rhythmus. Sina und Luska fanden immer wieder neue Versteckte. Sie genossen es, wenn Tina nach ihnen rief und verzweifelt in der Wohnung rumlief. Mit diesem Versteckspiel konnten sie Tina auf Trab halten. Ein Superversteck trieb Tina fast zur Verzweiflung. Sie besass einen Computer, der auf einem Computer-Tisch stand. Für die Tastatur gab es eine kleine Schublade, die man herausziehen konnte. Hinter dieser Tastatur war das ideale Versteck. Wenn man sich etwas klein machte, konnte man dort in aller Ruhe schlafen. Wer wäre auch darauf gekommen, dass die Mieze sich so klein zusammenlegen konnte. Es dauerte über eine halbe Stunde, bis Tina den kleinen Wicht entdeckt hatte.
Luska und Sina wohnten bereits acht Wochen bei Tina, als Sina ihren ersten Versuch wagte und sich von Tina streicheln liess. Tina kamen die Tränen, als sie zum ersten Mal den feinen Pelz des kleinen Kätzchens streicheln durfte. Sie liebte die beiden über alles und konnte nicht verstehen, weshalb diese ihre Liebe nicht erwidern konnten. Sina hatte ihre Scheu überwunden und genoss die Streicheleinheiten. Für Luska war der Zeitpunkt noch nicht gekommen. Sie sah den beiden aus der Ferne zu und schnurrte mit Sina mit, die von Tina liebkost wurde. Eines Tages dufte Sina zum ersten Mal die Wohnung verlassen. Sie genoss ihre zurückgewonnene Freiheit und blieb gleich drei Tage aus. Tina wurde äusserst unruhig und machte sich grosse Vorwürfe, ob ihre Entscheidung richtig war. Nach drei Tagen kam Sina zurück, glücklich und hungrig. Sie hatte die Umgebung ausgekundschaftet und konnte Luska erzählen, dass sie an einem schönen Plätzchen gelandet waren. Doch immer noch war Luska scheu. Die Menschenhand, die Sina streichelte, flösste ihr Angst ein.
Wenig später durften Sina und Luska für zwei Tage in die Ferien. Sie sollten bei Tinas Bekannten unterkommen, die am anderen Ende der Stadt lebten. Die vierköpfige Familie machte ihnen grosse Angst. Sie versteckten sich zitternd unter dem Bett und liessen sich auch mit allerbestem Zureden nicht hervorlocken. Sie warteten einen günstigen Moment ab und ergriffen via Balkon die Flucht. Nicht weit weg erstreckte sich ein kleiner Wald, in den sie wie vom Teufel gejagt, rannten. Dort setzten sie sich erschöpft hin und überlegten, was sie nun tun sollten. Tina war weit weg und sie waren doch noch so klein und einsam. Sie waren hinund hergerissen, wollten zu Tina zurück, wussten aber nicht, wo sie zu finden war. Sie spähten zwischen den Zweigen hervor und sahen viele Kinder, die nach ihnen riefen. Sie hatten enorme Angst in der fremden Gegend, umgeben von Geräuschen, die sie nicht kannten.

Nach einer Woche erhielt sie die Nachricht, dass eine Katze den Futterplatz und die Schmusedecke regelmässig benutzte. Die Hoffnung stieg und Tina besorgte sich eine Katzenfalle. Diese bestand aus einer Holzkiste, in die man leckeres Futter legte. Sobald die Katze in der Mitte über die Schwelle trat, ging hinter ihr das Tor zu. Tinas Freundin legte sich auf die Lauer. Ob es wohl Luska war, die jede Nacht den Weg zum Futternapf fand? Um drei Uhr in der Früh läutete das Telefon bei Tina. Man hatte Luska gefangen. Sie ging in die Falle. Tina raste dorthin, um sich davon selber zu überzeugen. Da sass Luska in der Falle und starrte sie mit grossen, erschreckten Augen an. Tina sprach liebevoll mit dem Kätzchen, wollte es beruhigen. Wie durch ein Wunder gab Luska Antwort. Sie miaute erst zaghaft, dann laut als bettelte sie Tina an, sie zu befreien. Tina öffnete das Tor und nahm Luska in die Arme. Der Bann war gebrochen, Luska hatte ihre Scheu abgelegt. Sie hatte Zugang zu Tina gefunden, die überglücklich war. So war die Familie wieder vereint und Sina konnte sich vor Freude fast nicht halten, als Luska wieder daheim war. Nun gingen sie zusammen auf die Pirsch, Luska mit ihrem Prachtsfell und Sina, die kein einziges weisses Häärchen aufwies. Sie blieben die besten Freunde und lernten allmählich, dass nicht jeder Mensch Böses mit ihnen vorhatte. Sie gewannen Vertrauen zu Tina.
Sina und Luska in den Ferien

Leider ging es nach zwei Wochen wieder nach Hause und alle drei sagten den Bergen und der Ruhe ade. Tina versicherte den Vierbeinern, dass sie das nächste Jahr wieder dorthin fahren wollten. Und so geschah es auch. Im nächsten Spätsommer setzte Tina die beiden Katzen wieder ins Auto und fuhr Richtung Ferien. Die Stubentiger waren schon aufgeregt, als sie nach einer langen Autofahrt endlich das Ziel erreichten. Sie konnten es kaum abwarten, wollten wissen, ob alles noch so war wie vor einem Jahr. Ihre erste Entdeckungsreise führte direkt zum leerstehenden Stall, der keine 50 Meter entfernt lag. Wo sich letztes Jahr Dutzende von Mäusen tummelten, stand nun aber ein böser, grosser Kater. Er fauchte und griff sie an. Sina rannte in Windeseile runter ins Chalet, wo Tina sass. Diese merkte sofort, dass etwas nicht stimmte und ging zum Stall hoch. Dort sass Luska, total erschreckt und aufgeregt. Tina wollte sie beruhigen, doch funktionierte das nicht. Luska war völlig durcheinander und fauchte sogar Tina und ihre Schwester an. Tina beschloss, Luska etwas in Ruhe zu lassen. Sie würde sich schon wieder beruhigen und nach Hause kommen. Doch dies war ein Trugschluss. Was schön begann, endete dramatisch.
Luska kam diese Nacht nicht nach Hause. Auch am folgenden Morgen erschien sie nicht. Sina hingegen lag ruhig auf dem Stuhl und genoss den Urlaub. Es war ja nicht das erste Mal, dass Luska eine Nacht auswärts verbracht hatte. Als sie aber auch am kommenden und übernächsten Tag nicht erschien, bekam es Tina mit der Angst zu tun. Sie begann Luska zu suchen, ging von Haus zu Haus, dem Seeufer entlang. Sie schaute unter jede Treppe, ins Bootshaus und in jeden Garten. Luska blieb verschwunden. Sie ging den Hang hinauf, wo viele leerstehende Ställe standen. Es war ein schwieriges Unterfangen eine Katze zu suchen. Die Gegend war riesengross. Luska hätte sich überall verstecken können. So ging das Tag für Tag. Tina konnte den Urlaub nicht geniessen. Sie musste ihre geliebte Luska wiederfinden.



Da kam Tina plötzlich eine geniale Idee. Sie liess von den Farbfotos, die sie von Luska hatte, eine Suchmeldung anfertigen. Zwei Farbfotos zeigten Luska in ihrer vollen Pracht. Auffallend war die unverkennbare Zeichnung ihrer Farben. Eine Gesichtshälfte war rotgetigert, die andere vierfarbig das Markenzeichen von Luska. Ihre Augen waren stechend grün, grüner als das Sommergras am Seeufer. Unter diese Fotos setzte Tina ihre Suchmeldung, Anschrift und Telefonnummer. Sie bat alle Bewohner des kleinen Dorfes um Mithilfe. Sie erklärte die Sachlage und bat die Leute, auch im Keller und in den Scheunen nachzusehen. Sie war sich sicher, dass Luska irgendwo war. Allerdings wusste sie auch, dass niemand sie berühren konnte. Auch wenn sie zu Tina Vertrauen gewonnen hatte, blieb ihre Scheu den fremden Menschen gegenüber. Die Post brachte diese Suchmeldung in jeden Haushalt des Dorfes und des Nachbardorfes.
Es wurde allmählich Herbst und Tinas Hoffnung schwand. Noch immer fuhr sie jedes Wochenende an den See. Sie kannte mittlerweile das ganze Dorf und viele der freilebenden Vierbeiner. Oftmals brachte sie ihnen Futter mit und stellte es ihnen vor die Ställe, wo sie ihre Jungen aufzogen. Mit Besorgnis musste sie erkennen, dass bald der Winter einziehen würde. Sie beobachtete die Schneegrenze, die jede Woche etwas weiter nach unten sank. In den Bergen würde es sehr kalt werden, dachte sie. Die Bäume verloren ihre Blätter, es wurde allmählich Winter. Tinas Trauer stieg ins Unermessliche. Sie wusste zwar, dass Luska in der freien Wildbahn geboren wurde, doch hatte sie sich in den Jahren bei Tina an das warme Wohnzimmer und das regelmässige Futter gewöhnt. Sie würde keinen Winter ohne Menschenhilfe überstehen. Zwar bekam Tina ab und zu eine Nachricht aus dem Dorf, doch bis anhin stellten sich diese Mitteilungen immer als Fehlmeldungen heraus. Auch Frau Engel konnte keine frohe Botschaft übermitteln.
So nahm Tina auch eines Abends nur mit halber Freude eine Mitteilung aus dem Fax-Gerät. Es schrieb ihr eine Dame aus Oberriet, sie habe ihre Luska gesehen. Sie kannte diese Nachrichten bereits und wusste, dass es sich auch hier um eine Fehlmeldung handeln musste. In letzter Zeit waren einige solcher Mitteilungen bei Tina eingetroffen und alle hatten sich als falsch erwiesen. Seit ihrer Heimkehr waren bereits zwei Monate vergangen und Tina musste sich allmählich mit dem Gedanken vertraut machen, Luska verloren zu haben.
Dennoch nahm sie das Telefon zur Hand und rief Frau Steiner an. Diese war sich ganz sicher; sie habe Luska gesehen. Tina versprach ihr, morgen frei zu nehmen und einmal mehr nach Oberriet zu fahren. Am kommenden Tag packte sie Futter, Napf und Käfig ein und fuhr die zwei Stunden nach Oberriet. Unterwegs überlegte sie, was sie jetzt wohl wieder antreffen würde.
Ihre Hoffnung war gering. Dennoch wollte sie nichts unversucht lassen. Frau Steiner war ganz aufgeregt, als sie an ihrer Türe klingelte. Sie zeigte mit dem Finger auf das freistehende Chalet neben ihrem Haus und erklärte, dort wohne sie, das sei sie sich sicher.
Tina ging langsam zum Holz-Chalet. Es stand tatsächlich leer. Die Eingangstüre war etwas erhöht. Eine Holztreppe führte vom Garten hinauf. Und unter diese Türe stapelte sich das Holz für den Winter. Zwischen diesem Holzstapel und der Treppe konnte man hindurchspähen. Es war eng und dunkel, doch konnte Tina ein grosses, rundes Loch erkennen, das anscheinend in den Keller des Gebäudes führte. Frau Steiner erklärte ihr, dass es sich dabei um den Lüftungsschacht handelt. Ihre Nerven waren angespannt. Sie rief leise Luskas Name. Da schoss ein aufgeschrecktes Fellbündel vor ihr durch und verschwand im Nachbarsgarten. Sie konnte gerade noch erkennen, dass es sich um eine getigerte Katze handelte. Sie hätte weinen können, denn sie wusste nun, dass Frau Steiner sich geirrt hatte. „Dies ist nicht meine Luska“, erklärte sie Frau Steiner, die ein paar Meter entfernt stand. „Das weiss ich“, erwiderte diese „hier wohnen mehrere Wildkatzen, unter anderem auch Ihre, da bin ich mir ganz sicher. Ich habe sie heute Morgen gefüttert. Zwar konnte ich sie nicht berühren, doch habe ich sie deutlich gesehen“.

Sie drückte sie fest an sich und redete liebevoll auf sie ein. Sie streichelte sie unentwegt, dabei liefen ihr die Tränen übers Gesicht. Sie wollte sie nicht mehr loslassen und wusste kaum, wie sie Luska in den Käfig bekommen sollte, ohne dass sie ihr entwich.
Frau Steiner stand abseits und verfolgte das Geschehen. Es wurde ihr ganz warm ums Herz als sie die beiden so sitzen sah, nach zwei Monaten wieder vereint. Ueberglücklich fuhren Tina und Luska nach Hause. Als Tina den Motor anliess, miaute Luska ganz laut. Sie verabschiedete sich von ihren neugewonnenen Freunden. Sie wussten gar nicht, wie sie Frau Steiner danken sollten. Ohne ihre Hilfe, wäre Luska verloren gewesen. Daheim angekommen, wurde Luska von Sina aufgeregt begrüsst.

Im Tageslicht musste Tina erkennen, dass es nicht allzu gut um Luska stand. Sie war bis auf die Knochen abgemagert und schmutzig, ein klares Zeichen dafür, dass die Katze krank war. Sie tastete Luska nach Ungeziefer ab und entdeckte mit Schrecken zwei grosse Knoten am Bauch der Katze. Ob diese Verdickungen wohl auf das gierige Fressen zurückzuführen waren? Ein Anruf beim Tierarzt war unbefriedigend. Dieser wollte die Katze zwar aufnehmen, erklärte Tina aber, dass sie sie zur Beobachtung dort lassen müsse. Und dies war das letzte, was Tina wollte. Unter keinen Umständen würde sie Luska weggeben, jetzt, wo sie sich nach zwei Monaten endlich wiedergefunden hatten. Sie beschloss, Luska einer Wurmkur zu unterziehen. Sie kannte die Probleme, die Luska mit dem Wurmbefall hatte. Vielleicht stellten sich diese Knoten nur als Wurmballen heraus? Bevor sie ihre geliebte Luska weggeben würde, wollte sie alles versuchen.
Nach einigen Tagen waren die Knoten verschwunden und Luskas übermässiger Hunger gestillt. Aus der schmutzigen braunen Luska wurde wieder eine vierfarbige Schönheit. Auffallend war die Haarpracht. Jetzt, wo ihr Fell wieder gläntzte, konnte man klar erkennen, dass Luska langes Haar bekommen hatte. Ihr Fell war extrem dicht und lang geworden. Die Natur hatte dafür gesorgt, dass sie den kalten Winter überstehen konnte. Sie war schöner denn je. Sie verliess die Wohnung nur selten, schlief mehr oder weniger den ganzen Tag. Wenn Tina auf den Balkon ging, folgte ihr Luska. Auch wenn sie in die Küche ging, war ihr Luska auf den Fersen. Sie liess sie nicht mehr aus den Augen, beobachtete sie ununterbrochen. Tina fragte sich oft, was Luska wohl alles erlebt hatte. Wäre sie nicht als wilde Katze geboren worden, hätte sie dieses Abenteuer kaum überlebt. Sie hatte von ihrer Mutter gelernt, sich in der freien Natur zu ernähren und einen Unterschlupf zu suchen. Die Wildkatzen aus Oberriet hatten sie aufgenommen und ihr ein warmes Plätzchen gegeben.
Gegen den Wurmbefall konnten diese natürlich auch nichts unternehmen. Für Tina stand es allerdings fest, Luska hätte keine zwei Wochen mehr überlebt. Sie konnte auf Grund der Würmer keine Nahrung mehr aufnehmen und magerte deswegen bis auf die Knochen ab.
Tina war allen dankbar. Sie schrieb erneut an alle Haushaltungen des Dorfes, dass sie dank ihrer Hilfe, Luska wiedergefunden hatte. Sie fuhr ein letztes Mal nach Oberriet, um sich in aller Ruhe bei Luskas Retterin zu bedanken. Noch einmal besuchte sie die Wildkatzen und stellte ihnen vor lauter Dankbarkeit eine grosse Portion Futter hin. Frau Engel sagte sie ade und lobte ihren Einsatz zum Wohl der Wildkatzen. Dem regionalen Tierschutz, der ihr bei der Suche nach Luska behilflich war, überwies sie einen Geldbetrag. Sie verliess Oberriet mit gemischten Gefühlen. Hier hatte sie Glück und Trauer erlebt und eine Lehre fürs Leben gemacht. Die Wildkatzen hatten ihr gezeigt, dass man in der Gemeinschaft in Frieden leben kann und dass man den Schwächeren Schutz bieten soll. In der Natur wird nicht gefragt, wo man herkommt und was man ist. Wer Hilfe sucht, dem wird sie geboten. Die Wildkatzen haben Luska aufgenommen und ihr ein vorübergehendes Zuhause geboten. Tina wusste, sie würde ihnen immer dankbar sein und diese Gemeinschaft als gutes Vorbild für ein Zusammenleben vor Augen haben.

Auch Luska hatte aus diesem Vorfall gelernt. Sie wusste, dass sie vorsichtiger sein musste, dass sie sich nicht zu weit von zu Hause entfernen durfte. Meistens ging sie mit Sina auf die Jagd. Es war ein herrliches Duo; Luska mit ihrer Farbenpracht und Sina, die pechschwarz und glänzend war. Zu zweit konnten sie jede Maus fangen, die sie wollten. Oftmals trieben sie Tina fast zur Verzweiflung. Sie brachten ihr nämlich die Mäuse und zum Teil auch Ratten lebend nach Hause, sozusagen als Geschenk. Luska konnte kaum verstehen, weshalb sich Tina nicht darüber freute. Meistens nahm Tina die Maus und brachte sie wieder nach draussen.
Luska und Sina waren oft miteinander unterwegs. Sie waren unzertrennlich und besuchten zusammen den römischen Zoo, wo es Schweine, Schafe, Ziegen und Esel gab. Dieser befand sich auf der anderen Seite der Strasse. Was sie aber nicht wussten, dass diese Strasse sehr gefährlich war. Meistens waren sie ja nachts unterwegs, wenn nur wenige Autos vorbeifuhren.

Luska beobachtete ihre Schwester voller Besorgnis. Irgendetwas stimmte doch nicht mit ihr. Sie wollte nicht spielen, auch nicht auf die Jagd gehen. Und draussen warteten schon viele Mäuse und Käfer auf sie. Sie legte sich deshalb dicht neben sie und leckte ihr mit der rauen Zunge über den Pelz. Es war ihr klargeworden, dass Sina krank und nicht fähig war, Mäuse zu fangen. Sie musste diese Aufgabe übernehmen. Jeden Morgen, wenn Tina aufstand, fand sie am Krankenbett von Sina eine frischerlegte Maus. Daneben sass voller Stolz Luska und schaute ihre Schwester unverständlich an. Sie konnte nicht verstehen, dass Sina in Gesicht und Mund verletzt war und die Maus nicht fressen konnte.
Nach zwei Tagen war Sina soweit ruhig geworden, dass Tina sich die Wunde ansehen konnte. Ein unterer Fangzahn war abgebrochen. Sie musste in ein Auto gelaufen sein und sich dabei das Gesicht aufgeschlagen haben. Sie packte Sina in den Korb und brachte sie zum Tierarzt, der ihr den Zahnstummel und die Wurzel unter Narkose entfernen musste. Schon bald hatte sie sich erholt und konnte mit Luska wieder auf Wanderschaft gehen. Von da an mieden sie aber die Strasse, die Sina fast zum Verhängnis geworden war.


An einem wunderschönen Sommertag, als Tina etwas länger im Bett lag, hörte sie draussen einen eigenartigen Laut. Es tönte so, als schreie eine Katze. Sie sprang aus dem Bett und rannte auf den Balkon. Dort sass Luska, siegesbewusst und schaute Tina an. Mit der rechten Pfote schob sie etwas vor sich her. Im ersten Moment glaubte Tina, sie schlafe noch, denn was da auf dem Balkon lag war eine Schildkröte. Sie hatte Beine und Kopf eingezogen, sich ins Haus verzogen. Tina nahm das kleine Tier und brachte es ins Badezimmer. Sie liess etwas Wasser über die Schildkröte laufen und zwang sie dadurch, die Beine zu strecken. Und nun war Tina blitzartig wach, denn was sie da sah, konnte sie nicht fassen. Zwischen den Zehen der Schildkröte waren Schwimmflossen. Sie schien unverletzt zu sein. Tina setzte sie in eine kleine Schüssel, zusammen mit einem Blatt Salat und liess etwas Wasser hineinlaufen. Dies gefiel dem kleinen Tier, denn dieses machte keine Anstalten mehr, seine Glieder einzuziehen.
Die grosse Frage war nun, wohin diese Wasserschildkröte wohl gehörte und woher sie kam. Tina wohnte schon seit etlichen Jahren hier und kannte alle Gärten der Umgebung. Es gab nirgendwo einen Teich oder Tümpel, wo die Schildkröte hätte herkommen können. Es war ihr absolut unerklärbar, wie Luska zu diesem Tier gekommen war.


Es begegnete ihr ein kleiner Junge. Auch ihn fragte sie nach einem allfälligen Wasserloch. Er nickte und wurde ganz aufgeregt. „It belongs to my friend“ gab er ihr zur Antwort „please follow me“. Und dann führte er sie zu einem Hauseingang. Er öffnete die Tür und drückte den Liftknopf. Tina verstand überhaupt nichts mehr. Wieso wollte der Junge in den Lift steigen? Wie konnte die Schildkröte jemandem gehören, der gar nicht im Erdgeschoss wohnte?
Im zweiten Stock wurden sie bereits erwartet. Freude herrschte, als man den Ausreisser unversehrt zurückbekam. Noch immer stand Tina vor einem Rätsel, das sich aber bald aufklären sollte. Zu dieser Wohnung gehörte eine riesengrosse Terrasse, auf der man am Vortag einen künstlichen Teich angelegt hatte. Da die Zeit nicht mehr reichte, wurden die Teichränder erst provisorisch abgeschirmt. Eine der beiden Schildkröten überkletterte die Seitenwand und krabbelte davon. Am Terrassenrand angekommen, fiel sie ein Stockwerk tief hinunter. Auch der nächste Weg war ein Irrtum. Sie fiel ein zweites Mal in die Tiefe und landete im Parterre, mitten im Gras. Dort gefiel es ihr schon wesentlich besser und sie versuchte, sich davonzumachen. Auf ihrer beschwerlichen Reise musste ihr Luska begegnet sein. Diese schnappte sie sich kurzerhand, trug sie die viereinhalb Meter lange Katzenleiter hinauf und legte sie auf die Terrasse. Bevor sich das eigenartige Tier wieder davonmachen konnte, weckte sie Tina mit lautem Gebrüll.
Ueberhaupt war Luska eine stilvolle Jägerin. Es war nicht das erste und auch nicht das letzte Mal, dass Tina von Luska beschenkt wurde. Im gleichen Sommer brachte Luska einen kleinen Vogel nach Hause und legte diesen direkt von Tinas Füsse. Diese sah sich den kleinen Kerl an und stellte fest, dass er grundsätzlich unversehrt war. Doch war er noch so klein, dass sie ihn unmöglich hätte in der Natur aussetzen können. Sie trug ihn auf der Hand durch die Wohnung und überlegte, was sie mit dem Vögelchen machen sollte. Da kam ihr in den Sinn, dass in ihren Storenkasten eine Vogelfamilie brütete. Das Nest war von aussen zugänglich. Sie nahm deshalb den kleinen Vogel in die Hand, öffnete das Fenster und hielt ihn vor den Nesteingang. Schwups, war der kleine Kerl verschwunden. Sie wartete einen Moment, wollte wissen, was sich im Nest jetzt abspielte. Doch nichts passierte, es blieb ruhig. Tina zog die Brauen hoch. Kann es sein, dass dies das richtige Nest ist? Fremde Vögel würden doch von anderen nicht akzeptiert, davon war sie überzeugt. Doch immer noch war alles ruhig. Gerade als sie das Fenster schliessen wollte und in den Garten hinuntersah, entdeckte sie Sina, die direkt unter dem Fenster sass und nach oben schaute. Nun war Tina klar, was passiert sein musste. Der kleine Vogel gehörte vermutlich wirklich in dieses Nest und war höchstwahrscheinlich rausgefallen. Die Katzen haben den kleinen Vogel gefunden und Tina nach oben gebracht. Diese hat ihn dank einer Blitzidee, wieder in sein richtiges Nest zurückgebracht.

Doch das war nicht die letzte Beute, die Tina entsorgen musste. Manchmal stand sie mitten in der Nacht auf, um irgendein Tier wieder in die Freiheit zu lassen. Sie war froh, dass die Strasse um zwei Uhr in der Früh menschenleer war, sonst hätte man sie vermutlich noch in die Heilanstalt gebracht. Sie stand im Nachthemd auf der Strasse mit einer Dose, in der sich eine verirrte Maus befand. Dazu fror sie oft unheimlich. Ihre Tierliebe war jedoch so gross, dass sie die Kälte vergass. Sina und Luska waren für alle Personen unnahbar. Wenn Tina Besuch erwartete, merkten die beiden Stubentiger sofort, dass etwas nicht stimmte. Sie machten sich absprungbereit. Sobald es an der Türe klingelte, waren sie verschwunden. Sie liessen sich erst wieder blicken, als die Luft rein war und die Gäste verschwunden waren. Sie mochten keine fremden Personen, wollten Tina für sich alleine.
Oft lag Luska in der Nacht ganz nahe bei Tina. Dort fühlte sie sich wohl und geborgen. Sie wusste genau, dass sie vor Tina keine Angst zu haben brauchte. In ihrer Nähe war sie sicher. Sie legte sich nachts dicht an Tina und genoss die Wärme und Geborgenheit.

Eines Tages erhielt sie von der Verwaltung ein Schreiben, dass die Katzenleiter, die Sina und Luska den Ein- und Ausstieg ermöglichte, demontiert werden musste. Ein Nachbar habe sich daran gestört. Tina war erschüttert. Wie konnte jemand sich daran stören? Sie nahm Kontakt auf mit der Verwaltung und dem Nachbarn und konnte vorerst das Schlimmste verhindern. Sie durfte Sina und Luska auch in Zukunft in die Freiheit lassen. Dennoch blieb die Angst zurück. In diesem Moment entschloss sie sich, mit ihren Katzen umzuziehen, an einen Ort, wo es keine Nörgler und Neider gab. Sie wollte ihren Katzen ein neues Zuhause geben, wo ihnen niemand mehr Vorschriften machen konnte. Sie kaufte sich eine Eigentumswohnung und beschloss, so bald als möglich umzuziehen.