Eine jahrelange Irrfahrt
Buch 5
Eine jahrelange Irrfahrt
Wenn eine Katze verschwindet, gilt für den Besitzer der Ausnahmezustand. Erst denkt er, das Tier stehe am Abend wieder vor der Türe. Und wenn das nicht der Fall ist, ist er überzeugt, dass die Katze einen Ausflug macht und am nächsten Morgen bestimmt mit leerem Magen und reumütig nach Hause kommt. Am darauf folgenden Tag wird er unruhig. Trotzdem redet er sich immer wieder ein, die Samtpfote sei halt wegen des Vollmonds oder einer neuzugezogenen Katze einfach mal länger weg. Er erfindet immer neue Dinge, um sich selber zu beruhigen und das ungute innere Gefühl zu überspielen. So richtig mulmig ums Herz wird ihm erst, wenn die eigenen Ausreden auch nach zwei Tagen nichts geholfen haben. Dann geht die Hoffnung in Angst über. Wo ist das Tier geblieben? Was hat er falsch gemacht? Hätte er die Katzentüre besser schliessen sollen? Warum hat er der Katze Fisch statt Hühnchen vorgesetzt, obwohl er doch genau gewusst hatte, dass Hühnchen das Lieblingsmahl ist? Jetzt beginnt die Sucherei. Er fragt in der Nachbarschaft nach, ob jemand die Katze gesehen habe. Dann geht er von Garten zu Garten und schaut unter jeden Busch. Wenn alles keinen Erfolg bringt, schreibt er das Tierfundbüro an, telefoniert dem Tierarzt, der Gemeinde und allen möglichen Tierfreunden. Alle sollen wissen, dass er seine Samtpfote sucht, denn viele suchende Augen sehen mehr als zwei.

Monika liess nicht locker. Sie suchte ihren Kater weiter. Auch nach vielen Wochen, wenn Andere bereits aufgegeben hätten, glaubte sie noch an die Rückkehr ihres Katers. Sie hatte noch andere Katzen, die Micio auch vermissten, doch er war ihr besonders ans Herz gewachsen. Er war so ein lieber Kerl, so sanftmütig und eigentlich recht häuslich. Natürlich streunte er umher, wie sich das für einen Kater eben gehörte. Doch war er am Morgen stets zurück.
Wer die Erfahrung gemacht hat, ein Tier zu vermissen, der kennt die Wut, die eines Tages in uns wächst. Es ist die Hilflosigkeit, die Ungewissheit, die in uns nagt. Und viele von uns wissen ganz genau, ob sie noch Hoffnung haben können oder nicht. Wir können nicht sagen, woher dieses Gefühl kommt, doch stimmt es in den meisten Fällen. Oft wissen wir ganz genau, ob das Tier noch lebt oder nicht.
M
onika war überzeugt davon, dass Micio noch lebte. Sie hatte zwar jeden Bauarbeiter auf der Baustelle gefragt und jeden Nachbarn, doch von Micio gab es keine Spur. Sie wusste allerdings, dass Micio eine sehr gefährliche Unart hatte. Er liebte Autos über alles. Das Leder der Autositze hatte eine enorme Anziehungskraft. Und Fahrzeuge, deren Türen noch offen standen, waren für ihn derart interessant, dass er sie inspizieren musste. Einem offenen Sonnendach konnte er nicht widerstehen, geschweige denn einem Cabriolet, das im Sommer vor seiner Haustüre parkte. Er war in der Strasse bekannt dafür, weshalb jeder Nachbar erst mal auf den Rücksitz schaute, bevor er weg fuhr. Es war schon mehrmals passiert, dass ihn jemand aus dem Auto vertreiben musste, bevor man davon fuhr. Aus diesem Grund hatte Monika auch mit den Bauarbeitern gesprochen, die nur vorübergehend auf der Baustelle tätig waren. Sie klapperte alle Firmen ab, die am Bau beteiligt waren. Wen sie vor Ort nicht mehr erreichen konnte, kontaktierte sie per Telefon. Auch diese Aktion war aussichtslos. Der Kater blieb verschwunden.

Es wurde Winter, Frühling und wieder Sommer. Die Jahre zogen dahin, doch Micio blieb verschwunden. Die Baustelle war fertig und neue Anwohner bezogen die neuerstellen Einfamilienhäuser. Egal, wohin Monika ging, ihre Augen suchten auch Monate später noch jede Ecke ab. Wenn irgendwo eine Katze sass, die Micio glich, hielt sie an und ging auf die Katze zu. Sie war besessen vom Gedanken, dass Micio noch lebte und nach Hause wollte. Doch sie konnte nichts mehr tun, hatte alle erdenklichen Suchmöglichkeiten ausgeschöpft. Auch wenn sie nicht mehr jeden Tag an ihren Micio dachte, lebte er in ihrem Herzen weiter. Sie hatte die Hoffnung nie aufgegeben, ihn eines Tages wieder zu finden.
Im Internet gab es eine Seite, in der man ein gefundenes oder entlaufenes Tier inserieren konnte. Dort war seit vielen, vielen Monaten ein Inserat von Micio platziert. Und wenn es nach drei Monaten aus der Suchliste verschwand, gab Monika ein neues auf. In der Zwischenzeit waren viele Jahre vergangen. Es gab Leute, die Monika nicht verstehen konnte. Sie sagten, man müsse sich eines Tages einfach damit abfinden, dass man ein Tier verloren und nichts über sein Schicksal erfahren habe. Doch Monika wollte nichts davon wissen. Sie war in dieser Beziehung sehr stur. Sie setzte immer wieder ein neues Inserat in die Suchseite. Das Thema "Micio" wollte sie einfach nicht abschliessen.
Auch Tina lass regelmässig die Anzeigen in der Tiersuche. Sie wollte stets informiert sein, wenn in ihrem Dorf eine Katze vermisst wurde, denn oftmals konnte sie helfen. Durch ihre Katzentüre kamen doch ab und zu mal Kostgänger, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. So fiel ihr eines Tages ein Inserat auf, das sie masslos verblüffte:
"Bauernkater weiss/schwarz, 9 Jahre alt, kastriert
Nach sechs Jahren, 11 Monaten und einem Tag ist Micio wieder bei mir zu Hause. Er kann leider nicht erzählen, was ihm alles passiert ist. Aber ich weiss heute, dass mich der Bauarbeiter aus dem Bernbiet angelogen hat. Micio fährt auch heute noch gerne Auto. Auf diesem Weg wurde er auch von hier aus Richtung Bern gebracht. Aufgefunden wurde er nach der langen Zeit von sehr lieben Leuten in Olten. Ich möchte mich nochmals ganz herzlich bei Euch bedanken."
Erst dachte Tina, es handle sich hier um einen schlechten Scherz. Sie hatte noch nie von einer Katze gehört, die jahrelang unterwegs war. Kurz entschlossen nahm sie mit Monika Kontakt auf. Diese erzählte ihr vom Verschwinden ihres Micio. Natürlich kannte Tina die Suchmeldungen von Monika und ihrem Micio. Diese waren seit vielen Monaten im Internet und kaum zu übersehen. Doch was ihr Monika am Telefon erzählte, haute sie fast um.

Eines Tages wurde die betagte Frau schwer krank. Man brachte sie in ein Pflegeheim, und die Futterquelle des kleinen Katers versickerte. Die Nachbarn informierten das Tierheim, als der Kater draussen nächtelang nach seinem Frauchen brüllte. Sie kannten den Kater, der seit Jahren zur betagten Dame kam, doch war er Fremden gegenüber zu schüchtern geworden, als dass man ihn hätte einfangen können. Dies war nun die Aufgabe des Tierheims. Die Tierschützer konnten das traurige Tier mit Trick und Schlichen einfangen. Sie brachten den Kater nach Olten in eine Pflegestation. Dort sollte er zur Ruhe kommen, bevor man ihn zur Vermittlung frei gab. Er mochte die Pflegestation nicht besonders, doch immerhin gab es dort Futter und einen Liegeplatz. Nach draussen durfte er nicht. Er vermisste sein Frauchen und die Ausflüge ins Bauareal. Wie gern wäre er wieder nach Hause gegangen. Er wusste ja nicht, dass sein Frauchen in einem Pflegeheim war und keine Möglichkeit mehr hatte, sich um ihn zu kümmern. Als er nach Wochen zur Ruhe gekommen und somit zur Vermittlung freigegeben war, platzierte man ein Inserat im Internet. Dieses nahm, wie bereits erwähnt, genau den Platz ein über dem Inserat von Monika.
Monika schrieb die Pflegestation an und bekam eine genauere Beschreibung des Katers, der einen Platz suchte. Als sich das Foto auf dem Bildschirm langsam von oben nach unten öffnete, verschlug es ihr den Atem. Erst sah sie die Ohren, dann die Augen, das Näschen und die Brust - von Micio. Sie konnte es nicht glauben. Wenn das nicht Micio war, würde sie einen Besen fressen! Sofort rief sie die Pflegestation an. Sie musste Näheres zur Herkunft dieses Katers wissen. Und dann erzählte man ihr die Geschichte der alten Dame, die das zugelaufene Tier bei sich aufgenommen hatte. Als man ihr die Ortschaft nannte, wo der Kater das erste Mal aufgetaucht war, wusste sie, dass es Micio war, der hier zur Vermittlung ausgeschrieben war. Die Baufirma, die in ihrer Nachbarschaft die Häuser gebaut hatte, stammte von dort. Die Bauarbeiter hatten sie also angelogen, hatten Micio doch versehentlich mitgenommen. Statt sie zu informieren, hatte man alles abgestritten. Sie war wütend und erleichtert zugleich.


Noch in der gleichen Woche wurde Micio mit einem Chip versehen. So etwas sollte nie mehr passieren. Mit dem Metallplättchen, das unter seinem Pelz sass, konnte man ihn jederzeit als Micio erkennen und nach Hause bringen. Und Monika war glücklich. Ihr Gefühl hatte sie nicht im Stich gelassen. Sie hatte gewusst, dass Micio lebte und nicht locker gelassen. Es war reiner Zufall gewesen, dass ihr Inserat direkt unter dem der Pflegestation platziert war. Doch manchmal braucht es halt ein wenig Glück im Leben.