Sonnenbrand
Buch 6
Er war mit seinen zwei Geschwistern auf einem Bauernhof in Luzern geboren worden. Die meisten Katzen können sagen "Es geht mir gut, es fehlt mir an nichts", doch das galt nicht für Tüpfli. Den drei kleinen Kätzchen fehlte es an allem und es ging ihnen mies. Der Bauer kümmerte sich weder um ihre Mutter noch um deren Nachwuchs. Sie waren einfach hier, das hatte er festgestellt. Die Katzenmutter bekam von ihm nichts zu futtern und musste sich das Fressen für sich und ihren Nachwuchs selber besorgen. Die Tiere waren übersäht mit Flöhen und Zecken. Das schwächte sie sehr. In ihren Ohren tummelten sich Ohrmilben. Sie hätten sich Tag und Nacht kratzen können.

Es war keine Diskussion, diesen Tieren musste geholfen werden. Sie packte die drei Kätzchen in einen Tragkorb und fuhr davon. Ihre Mama miaute ihnen nach und wünschte ihnen ein besseres Leben.
Der Tierarzt, zu dem die weissen Katzen gebracht wurden, runzelte die Stirne, als Nati den Korb öffnete. Er schüttelte nur den Kopf. Trotzdem piekste er sie und nahm ihnen etwas Blut ab. "Leukose negativ, immerhin", war seine Aussage. Dann schaute er ihnen in den Mund und putzte ihnen die Augen mit einem Wattebausch ab. In die Ohren träufelte er ihnen eine Flüssigkeit, die erst brannte und dann etwas Linderung brachte. Noch immer war sein Blick ratlos. Als Tüpfli dann noch einen Hustenanfall bekam, war sein Entschluss gefasst. "Nati, erlösen wir sie. Das hat keinen Sinn. Diese Babies sind derart krank. Du kannst sie mit diesem Schnupfen und Husten nicht in deine Auffangstation aufnehmen. In diesem Zustand kann ich sie nicht impfen. Wir werden sie schmerzfrei erlösen, das ist das Beste für sie." Nati war schockiert. Sie waren noch so klein und hatten bis jetzt nur die Negativseite des Lebens kennen gelernt. Und der Leukosetest war immerhin negativ ausgefallen. Natürlich wusste niemand, ob man diese drei durchbekommen würde. Auch stand noch überhaupt nicht fest, ob sich aus den verbrannten Ohren nicht Krebs entwickeln würde. Doch sie wollte ihnen eine Chance geben. Sie war hin und her gerissen. Ihr Verstand wusste, dass die Heilungschancen minim waren, doch ihr Herz konnte der Euthanasie nicht zustimmen. Was sollte sie tun? Sie kannte niemanden, der drei kranke Katzenkinder aufnehmen würde. Sie war total verzweifelt und rief alle Freunde und Bekannten an, die ihr in den Sinn kamen. Es war aussichtslos, niemand wollte diese Aufgabe übernehmen und die drei Katzenkinder zu sich holen. Und sie hatte nur zwei Stunden Zeit, um eine Lösung zu finden. Sie sah diedrei Augenpaare, aus denen schnupfenbedingte Tränen kullerten. Doch diese Augen waren auf sie gerichtet und voller Hoffnung. Sie allein musste nun über Leben und Tod entscheiden.


Sie hatte ja gesagt, nun müsste sie auch die Folgen tragen. Nati gab ihr Medikamente mit und Ratschläge, wie sie diese Katzen behandeln musste. Dann fuhr Tina die einhundert Kilometer zurück. Unterwegs, als sie in die Transportboxe schielte, hatte sie Angst vor ihrer eigenen Courage. Würde sie es ertragen, wenn die Kleinen in ihren Armen sterben würden? Wieso hatte sie das nur gemacht? Hatte sie sich hier eine Aufgabe gestellt, der sie gar nicht gewachsen war? Doch nun war es zu spät, sich darüber Gedanken zu machen. Neben ihr sassen drei Katzenbabies, die in Tina einen rettenden Engel sahen.

Nur der grösste von ihnen, ein vollkommen weisser Kater, machte bald gute Fortschritte. Bei ihm waren auch die Ohren nicht ganz so schlimm verbrannt wie bei seinen Geschwistern. Trotzdem bekam auch er die gleichen Mittel wie die anderen. Auf die Ohren wurde eine Cortison-Creme aufgetragen, welche Brandwunden heilen sollte. In der Folge fielen den Katzenbabies alle Haare aus. Mit ihren rosaroten Ohren sahen sie nun aus wie kleine Schweinchen. Die Medikamente schmeckten zwar bitter, doch die kleinen Patienten waren zu schwach, um sich dagegen zu wehren. Innerhalb von zwei Wochen ging es den Kätzchen bald besser. Der grosse Bruder war schon putzmunter und genoss es besonders, dass Tina sich viel mit ihnen abgab und auch mit ihnen spielte. Manchmal kamen Nachbarskinder vorbei, die sie hochnahmen und kuschelten. Es hatte sich herum gesprochen, dass bei Tina Katzenbabies eingetroffen waren.
Tina und Nati blieben in engem Kontakt. Sie tauschten ihre Erfahrungen aus und Tina war froh um die guten Ratschläge von Nati. Sie hatte ja viel Erfahrung mit solchen Fällen, hatte sie früher als Tierarzthelferin gearbeitet. Es war an der Zeit, den Katzenbabies Namen zu geben, denn sie konnte ja nicht immer vom "Grossen" oder von der "Weissen" oder von "dem mit den Punkten" sprechen. Der älteste Kater wurde "Snow" genannt. An ihm gab es nicht ein einziges dunkleres Haar. Er war weiss wie der Schnee und gedieh vorzüglich. Er war auch der stärkste der Gruppe und hatte viel Kraft, der Krankheit zu trotzen. Er konnte seinen Schnupfen schon bald überwinden und war reif, das Quarantäne-Zimmer zu verlassen. Er genoss es sichtlich, als sein Aufenthaltsraum plötzlich grösser wurde und er mit anderen Katzen zusammen sein konnte. Nun durfte er mit den anderen Katzen, die bei Tina lebten, spielen und herumtoben.
Das mittlere des Trios, ein Mädel, erhielt den Namen "Flocke", eine Kurzform von Schneeflocke. Auch sie war vollkommen weiss. Ihre Augen waren stahlblau. Und hier handelte es sich nicht um die blauen Augen, die alle Katzenkinder haben. Nein, ihre Augenfarbe würde so intensiv blau bleiben. Sie war eine kleine Schönheit, auch wenn ihre Ohren noch immer verkrümmt zum Himmel schauten. Auch sie hatte durch die Salbe alle Haare an den Ohren verloren. Manchmal musste Tina lachen, wenn sie die Babies betrachtete. Sie sahen schon sehr merkwürdig aus mit ihren Rosa-Ohren.
Das kleinste Katzenbaby war ein Kater. Er war auch weiss in der Grundfarbe, trug aber ein paar schwarze Tupfen im Haarkleid. Sie nannte ihn "Tüpfli". Und ihm ging es gar nicht gut. Schon seit Wochen war er hier und hustete noch immer. Die Medikamente schienen nicht zu wirken. Auch ein anderes half nur vorübergehend. Doch Tina war ausdauernd, dafür war sie bekannt. Ihre Geduld war für andere fast unerträglich. Sie gab nicht so schnell auf. Dann würde sie halt auch noch ein drittes Medikament ausprobieren. Sie war fest entschlossen, Tüpfli durchzubekommen.
Noch immer sassen die beiden Geschwister im dritten Zimmer fest, das als Quarantäne-Station eingerichtet war. Es war nicht immer ganz einfach, die eigenen Katzen von diesem Zimmer fernzuhalten und die Patienten drinnen zu behalten. Sie musste beim Rein- und Rausgehen gut aufpassen, dass ihr niemand durch die Beine entwischte.


Im Verlaufe des Sommers kamen viele Katzenbabies krank zu ihr und durften die Wohnung ein paar Wochen später als geheilt verlassen. Zusätzlich bekam Tina noch Katzenkinder, die vollkommen gesund waren, doch Freigang brauchten. Diesen konnte ihnen Nati nicht bieten. Auch fanden zwei Geschwister vorübergehend Unterschlupf, deren neue Besitzer noch im Urlaub waren. Sie konnten aus Platzgründen nicht in Natis Wohnung auf die Rückkehr ihrer Menschen warten.
Tina hatte alle Hände voll damit zu tun, die Tiere zu versorgen. Es blieb ja nicht nur beim Füttern und beim Pflegen der kranken Tiere. Sie musste auch Futter und Katzenstreu in Unmengen auftreiben. Die Katzenbabies hatten, sobald sie gesund waren, einen unheimlichen Hunger und holten nach, was sie in den letzten Wochen verpasst hatten. Sie verfütterte Riesenmengen Dosenfutter. Manchmal schämte sie sich, wenn sie schon wieder einen prallgefüllten Sack mit leeren Blechdosen zur Entsorgungsstelle brachte.
Doch irgendwie war es auch eine schöne Aufgabe. Sie konnte live mitverfolgen, wie die Tiere sich entwickelten. Dank dieser Pflegestation bei Tina konnte Nati zusätzliche Tiere bei den Bauern holen und sie somit vor einem grausigen Tod bewahren. Auch wenn wir nicht mehr im Mittelalter leben, gibt es noch immer Bauern, die Katzenbabies auf brutalste Weise umbringen. Sie denken nicht daran, dass es sich hier um ein Lebewesen handelt, das durchaus Schmerz und Leid empfinden kann.
Eines Tages, es waren schon viele Wochen vergangen, durften auch Flocke und Tüpfli aus ihrem Gefängnis raus. Nun war die Ansteckungsgefahr gebannt und sie durften mit den anderen Katzen, die ja in der Zwischenzeit auch gegen den heimtückischen Katzenschnupfen geimpft waren, spielen. Sie hatten bald entdeckt, dass es einen Weg nach draussen gab. Durch die Katzentüre konnten sie in den Garten hinaus, wo die Sonne schien. Sie liessen sich die spätsommerliche Wärme auf den Pelz scheinen und waren einfach nur glücklich.

Eines Tages stand eine weisse Katzendame vor ihm. Ueber Kopf und Rücken hatte sie eine dunkelbraune Tigerzeichnung. Auch sie schnupfte, genau gleich wie er auch. Zwar war sein Husten verschwunden, doch der Schnupfen war noch nicht ganz ausgeheilt. Eine Leidensgenossin, wie schön. Sie hatten bald Freundschaft geschlossen, spielten miteinander und legten sich nachts zusammen in die gleiche Kuschelhöhle. Er hoffte, dass er für immer mit seiner Freundin, die er kurzerhand "Schnupfi" nannte, zusammen bleiben würde.
Und dann traf er bei einem seiner nächtlichen Ausflüge die fünf Katzen in seinem Garten. Erst dachte er, es handle sich wieder um Neuankömmlinge der Pflegestelle, doch als er sie genauer betrachtete, wusste er, dass sie einfach nur Hunger hatten und einen Platz zum Ausruhen suchten. Er zeigte ihnen deshalb den Weg ins Wohnungsinnere und freute sich, dass ihnen das Futter gut schmeckte.


Eines Nachts hörten sie ein Fauchen und Kreischen. Es kam aus dem Park in Tinas Nähe. Haarbüschel flogen durch die Gegend und sie hörten einen grellen Aufschrei. Dann sahen sie einen Kater, der humpelnd in Tinas Garten verschwand. Er kam ihnen irgendwie bekannt vor, doch wussten sie nicht genau, um wen es sich handelte. Erst am nächsten Abend erfuhren sie, was da los war.