Heimwärts
Buch 6
Auch die Gruppe der Heimatlosen wäre gerne zuhause gewesen. Doch immer waren sie unterwegs. Allmählich bekamen sie es mit der Angst zu tun. Ihre Reise war ja unendlich. Ob sie wohl je ein Ende nehmen würde?
Die Bäume verloren bereits ihre Blätter. Bei jedem Windzug, glitten sie langsam hinunter. Die wenigen, die noch oben an den Aesten hingen, verwandelten sich in Gelb und Rot. Die Kinder stapften durch die Blätterhaufen, die ein raschelndes Geräusch verursachten. Es war Herbst geworden. Die Tage wurden kürzer. Bevor der Winter einzog, wollten die Katzen zuhause sein. Sie wussten, dass ihre Reise bald zu Ende sein musste. Ihre Kraftreserven waren aufgebraucht. Die Gegend kam ihnen jedoch bekannt vor. Sie hörten, wie die Leute einen vertrauten Dialekt sprachen. Jeder ahnte es, doch keiner traute sich, seine Gedanken auszusprechen. Sie hatten auf ihrem langen Weg schon oft die Hoffnung aufgegeben, doch jetzt waren ihre Lebensgeister wieder erwacht.
Es wurde allmählich Zeit, dass ihre Reise ein Ende nahm, denn Beauty war schon wieder trächtig geworden. Sie trug bereits einen dicken Bauch mit sich herum und hatte Mühe, das Tempo der Kater einzuhalten. Noch immer richteten sie sich nach der Sonne, die zu dieser Jahreszeit aber nur wenige Stunden zu sehen waren. Auch die Sterne und der Mond wurden oft durch dicke Wolken verdeckt. Es war für die Tiere nicht ganz einfach, den richtigen Weg zu finden, wenn ihre Wegweiser verdeckt waren.
Vor ihnen lag jetzt die Autobahn. Diese konnten sie auf keinen Fall überqueren. Seit ihrem Unfall hatten sie panische Angst vor den Geräuschen der vorbeirauschenden Autos. Trotzdem wussten sie, dass ihr Weg auf die andere Seite der Strasse führte. Sie marschierten eine Stunde dem Zaun entlang, der Wildtiere von der Schnellstrasse abhalten sollte. Dann kamen sie zu einer Unterführung. Endlich, jetzt konnten sie die andere Seite erreichen. Sie schlichen sich durch den Tunnel. Ueber sich hörten sie das Brausen der Autos, ein Geräusch, das ihnen zwar Angst machte, das ihnen aber bekannt vorkam. Sie konnten sich erinnern, dass man in stillen Sommernächten dieses Rauschen von der Ferne hören konnte.
Auf der anderen Seite der Unterführung sahen sie ein kleines Dorf und gemähte Felder. Die Erntezeit war vorbei. Das Land wartete auf den nächsten Frühling. Ein schmaler langer Feldweg führte durch das Dorf, hinauf zu einem kleinen Haus am Waldrand. Es stand etwas abseits, als gehöre es nicht in dieses Dorf. Es war kein modernes Vorzeigehaus, schon etwas älter, eine Art Blockhaus. Trotzdem hatte es seinen eigenen Charme. Sie sahen den Rauch aus dem Kamin hochsteigen. Es musste jemand zuhause sein. Sie marschierten weiter. Wenn sie ein Geräusch hörten, versteckten sie sich in den Gebüschen oder kletterten auf Bäume. Sie waren in den letzten Monaten sehr vorsichtig und etwas ängstlich geworden. Der letzte Kontakt zum Menschen war schon sehr lange her, sie waren verwildert.
Auf der linken Seite des Weges waren vier neue Häuser entstanden, schmucke, kleine, moderne Einfamilienhäuser. Noch waren die Gärten unbepflanzt und unansehnlich. Doch von drinnen hörten sie Stimmen. Sie waren bewohnt. Sie liessen diesen Weiler links liegen und marschierten weiter. Etwas zog sie hinauf zum Waldrand. Es war ihr Instinkt, der sie heimwärts führte.
Vor dem Haus setzten sie sich hin und bewunderten das kleine Anwesen. Es war ein zweistöckiges Blockhaus mit einer angebauten Scheune. Davor erstreckte sich ein grosser, liebevoll angelegter Garten, aufgeteilt in kleine Beete. Wo im Sommer Gemüse und Blumen wuchsen, war nun alles umgegraben. Man hatte sich bereits auf den Winter eingestellt. Die Saison war vorbei.

Die Katzen spitzten die Ohren. Sie drehten sie wie kleine Antennen in die Richtung, aus der der Engelsgesang kam. Sie schnurrten aufgeregt. In der Katzengruppe steigerte sich plötzlich die Nervosität ins Unermessliche. Diese wunderschöne Stimme kannten sie. Shumba sprang auf den Fenstersims und wetzte seine Krallen am Fenster. Doch die Frau beachtete ihn nicht. Ihr Gesang übertönte sein Scharren. Sie hatte sich voll ihrem Baby zugewandt.
Nun war Hektik in die Katzengruppe gekommen. Beauty rannte mit ihrem dicken Bauch so schnell es ging ums Haus. Hinten musste es doch eine Katzenklappe geben, das wusste sie von früher. Doch die Tür war geschlossen. Auch wäre sie mit ihrem Umfang wohl kaum mehr durch den kleinen Durchschlupf gekommen.
Das nächste Fenster führte zum Wohnzimmer. Sie sahen zwei Kratzbäume, auf denen ein paar Stubentiger lagen. Die einen putzten sich, die anderen genossen die Wärme, die unter der Decke am schönsten war.
Auf dem Sofa sass Thomas. Er las ein Buch. Ab und zu legte er es auf die Seite und hörte seiner Frau zu, die ihr Kind in den Schlaf sang. Wie sehr er sie doch liebte. Das Kind hatte ihnen geholfen, die schrecklichen Ereignisse der letzten zwei Jahre zu vergessen. Es war neues Leben entstanden, eine neue Aufgabe. Ina ging in ihrer Mutterrolle voll auf. Zwar gab es noch Momente, wo sie an die Schrecken der Vergangenheit dachte. "Die Zeit heilt Wunden", sagt man. Doch die Narben blieben zurück. Trotzdem hatten sich allmählich die schwarzen Erinnerungen in grauen Nebel gehüllt, der sich langsam verzog.
Thomas ging ins Kinderzimmer. Er setzte sich neben seine Ina ans Bett. Zusammen schauten sie in die Wiege, wo ihr kleiner Sonnenschein lag. Neues Leben, neue Hoffnung. Auch er hatte in den letzten Monaten viel gelitten und war nun froh, dass dieses kleine Wesen seine Frau aus einer tiefen Depression gerettet hatte. Nun würde alles gut werden. Er nahm sie in die Arme und küsste sie. Zusammen betrachteten sie das kleine unschuldige Wesen, das eingeschlafen war.
Es war schon fast Mitternacht, als Thomas nochmals hinaus in die Dunkelheit ging. Er wollte noch kurz den Abfall raus bringen. Er schaute zum sternenklaren Himmel hinauf. Es schauderte ihn. Der Winter hatte seine ersten Vorboten geschickt. Es war kalt geworden. Er eilte zum Gartentor und stellte den Müllsack ab. Morgen früh würde ihn die Müllabfuhr mitnehmen.
Als er zum Haus zurück wollte, sah er die glitzernden Punkte, die ihn fixierten. Waren hier wilde Tiere oder hatte er die Türe nicht richtig geschlossen und seine Katzen waren ihm nachgeschlichen? Für einen Moment bekam er es mit der Angst zu tun, denn seine Katzen sollten nicht unbeaufsichtigt in den Garten hinaus. Doch die Türe war fest geschlossen. Wer war das denn? Durch den fahlen Schein des Halbmondes konnte er kaum etwas erkennen. Er ging den Weg zum Haus zurück und knipste das Licht vor der Haustüre an. Dann blieb er wie angewurzelt stehen. Er konnte nicht glauben, was er da sah. Nein, so etwas gab es nicht. Er musste sich getäuscht haben. Sein Herz raste. Für einen Moment versagten seine Beine ihren Dienst. Er zitterte am ganzen Körper und liess sich auf die Bank fallen, die vor der Haustür stand. Wie gerne hätte er seiner Frau gerufen, doch dadurch wäre auch der Kleine aufgewacht.
Shumba nahm die Gelegenheit wahr und sprang zu ihm hoch. Noch während des Sprunges begann er ganz laut zu schnurren. Er leckte ihm die Wange und sog den Duft von Thomas ein, den er von früher kannte. Thomas nahm ihn in die Arme und drückte ihn ganz fest an sich. Der schöne Birmakater war nur noch Haut und Knochen. Das Fell war struppig und schmutzig. Er spürte Verknotungen und kleine Aestchen. Was war mit Shumba geschehen?
Dann entdeckte er auch die anderen Kater, die sich vor ihm hingehockt hatten, Aramis und Silver. Wenig später bog auch Beauty träge um die Ecke. Im Vergleich zu den drei anderen, war sie extrem dick geworden. Vor lauter Staunen vergass er alles um sich herum. Wie um alles in der Welt hatten die Tiere den Weg nach Hause gefunden?

Nur Beauty blieb etwas abseits. Sie hatte grosse Schmerzen. Die Aufregung war zu viel gewesen. Die Zeit der Geburt war gekommen, die Wehen hatten eingesetzt.



Es dauerte viele Wochen, bis Beauty wieder zu Kräften kam. Langsam bildete sich auf ihrem wunderschönen Fell wieder der alte Glanz. Sie ging nur selten nach draussen, obwohl der Weg dorthin nun offen war. Ina und Thomas hatten den Heimgekehrten eine zusätzliche Katzentüre eingebaut, damit sie jederzeit in den Garten konnten. Sie wussten genau, dass ihre Tiere nach dieser abenteuerlichen Reise keine Wohnungskatzen mehr waren.


Trotzdem überkam sie manchmal die Angst, dass man sie wieder in eine Boxe setzt und wegfahren würde an irgendeine Ausstellung, wo sie stundenlang still sitzen musste. Sie durfte nicht daran denken. Nie mehr wollte sie von hier weg, schon gar nicht in einem Auto mitfahren. Doch ihre Angst war unbegründet. Seit Ina und Thomas eine Familie gegründet hatten, besuchten sie keine Ausstellungen mehr. Sie hatten sich dazu entschlossen, die Zucht aufzugeben und keine Katzen mehr kreuz und quer durch die Schweiz zu fahren. Jetzt, nachdem Shumba, Beauty, Aramis, Ginger und Silver wieder daheim waren, war das Haus voll.
Zwischen den fünf Katzen war eine ganz besondere Verbindung entstanden. Auch jetzt, wo sie daheim waren, verbrachten sie viel Zeit zusammen. Oft lagen sie dicht beieinander als kleiner Wollknäuel, wie sie es unterwegs an kalten Winterabenden immer gemacht hatten. Sie verstanden sich zwar mit den anderen Tieren auch gut, doch zwischen ihnen war mehr, eine Art Seelenverwandtschaft. Sie waren zwei Jahre lang Zigeuner gewesen, suchende und verlorene. Nun hatten sie ihr Ziel erreicht.
Niemand weiss, wieso Katzen diese Gabe haben, lange Strecken nach Hause zurückzulegen ohne Kompass und Wegweiser. Wir Menschen werden nie erfahren, womit diese Tiere ihren Weg finden, woran sie sich orientieren. Ist es Instinkt oder sind es übernatürliche Kräfte. Tatsache ist aber, dass solche Reisen nachgewiesen sind. Wir können uns lediglich vorstellen, dass jedes Tier einen Schutzengel hat. Dieser hat über sie gewacht und ihnen den Weg gezeigt, den Weg heimwärts.

