Wenn die Sirene singt
Buch 6

Sie hatten sich beraten und waren zum Schluss gekommen, zur nördlichen Seite des Flusses zu wechseln. Shumba war der Chef der Gruppe und Aramis war froh darüber. Er wollte die Verantwortung nicht übernehmen. Die zwei kleinen Katzen gehorchten sowieso. Ihnen war alles egal, Hauptsache, sie wären bald wieder daheim. Die Reise schien ihnen unendlich und anstrengend. Sie hatten sich auch schon überlegt, ob sie nicht einfach stehen bleiben wollten. Doch dann überkam sie wieder die Angst. Was würde aus ihnen werden, wenn kein grosser Kater wie Shumba auf sie aufpassen würde?

Lange war es noch nicht her, seit dem Zeitpunkt als sie vor genau dieser Haustüre stand, ein kleines, schwarzes, abgemagertes Kätzchen. Kati hatte grosses Mitleid mit ihr und gab ihr etwas Futter. Dann sollte die Katze wieder gehen, denn Kati wollte kein Haustier. Dies bedeutet, angebunden zu sein und Verantwortung zu tragen. Und dafür hatte sie weder Zeit noch Lust. Sie war erst kürzlich hierher gezogen, weg aus der lauten Stadt. Wegen ihres Jobs war sie ständig unterwegs und selten daheim. Wie hätte sie da ein Haustier halten können? Nein, das kam ja gar nicht in Frage. Auch ihr Freund fand die Idee schlecht. Also schickte man die schöne Sira wieder weg.
Am nächsten Tag stand die Schwarze wieder dort. Mit ihren treuen, gelben Augen fixierte sie das Haus. Ihr entging nichts. Sie konnte jeden um die Pfote wickeln. Viel wollte sie ja nicht, lediglich ein warmes Plätzchen und etwas Futter. Sie sah Kati und ihren Partner in der Küche stehen. Sie sprang auf den Fenstersims und verlangte Einlass. Doch nichts passierte. Also hockte sie sich auf den Gartenstuhl und fixierte die Türe. Das Paar schielte zu ihr hinaus auf den Gartensitzplatz. Nein, heute würden sie stark bleiben und die Kleine hungern lassen! Nicht dass sie sich noch bei ihnen einschlich. Sie setzten sich ins Wohnzimmer, mit dem Rücken zum Garten, denn sie konnten nicht mehr in die schönen Augen der Schwarzen sehen. Sie spürten den bohrenden Blick in ihrem Rücken. Irgendwie verlief der Abend aber eigenartig und unruhig. Es dauerte keine Viertelstunde, als Stefan in die Küche eilte, um Mineralwasser zu holen, eine Arbeit, die normalerweise Kati verrichtete. Auch schien an diesen Abend mit Katis Blase etwas nicht zu stimmen. Sie musste ständig zur Toilette. Es war ein stetes Hin und Her. Der Krimi im Fernsehen war zwar spannend, doch keiner konnte dem Geschehen so richtig folgen. Mit den Gedanken war man abwesend.
Als Kati gegen Mitternacht schon zum fünften Mal zur Toilette musste, schlich Stefan ihr nach. Er sah sie durch den Flur eilen. Sie schielte kurz zum Wohnzimmer und bog dann ab zur Küche. Dann öffnete sie die Tür zum Garten, setzte sich auf den Boden und hielt der kleinen Schwarzen ein paar Stückchen Fleisch vor die Nase. Gott sei Dank sass sie mit dem Rücken zur Tür. Stefan schlich sich an ihr vorbei in den Garten und nahm still und leise den kleinen Teller weg, der kaum einen Meter entfernt unter dem Gartentisch stand. Diesen hatte er vor einer halben Stunde auf den Sitzplatz gestellt. Nun war er leergefegt. Nur noch ein paar Spuren Sauce liessen darauf schliessen, dass hier eine Katze rumgeschlabbert hatte. Als Kati sich umdrehte, sah sie Stefan. Er fühlte sich ertappt wie ein Lausejunge nach einem Streich. Eine Röte stieg in sein Gesicht. In seiner rechten Hand hielt er den leeren Teller. Sie schauten sich in die Augen. Dann mussten beide wie auf Kommando lachen. Sie nahmen sich in die Arme und drückten sich. Ihr Verstand sagte nein, ihr Herz jedoch ja. Wahrscheinlich war es einfach Schicksal. Seit diesem Abend war Sira hier Stammgast.
Kati und Stefan waren sich aber schon bewusst, dass sie erst nach dem Besitzer der schönen Katzendame suchen mussten. Sie meldeten das Tier dem Tierarzt, der Polizei und dem Tierfundbüro. Doch niemand meldete sich auf ihre Fundanzeige. Keiner stellte einen Anspruch auf die Schwarze. Die Wochen zogen übers Land und Sira hatte sich in ihrer neuen Familie eingelebt. Es war ein fantastisches Zuhause, eine abenteuerliche Umgebung und liebevolle Pflegeeltern. Sie war zwar viel allein, doch das störte sie überhaupt nicht. In dieser Zeit legte sie sich aufs Sofa und schlief. Es mangelte ihr an nichts.
Eines Tages, als definitiv fest stand, dass Sira niemandem gehörte, brachte man sie zur Untersuchung zum Tierarzt. Wenn sie schon bei Kati und Stefan leben sollte, musste man mindestens sicher sein, dass sie gesund ist. Und eine Freigängerin muss geimpft werden, nicht dass sie noch eine der tödlichen Katzenkrankheiten aufliest. Beim Tierarzt entwickelte sich Sira aber zur Bestie. Es gefiel ihr überhaupt nicht, dass man an ihr rumdrückte, ihr Mittel in die Ohren spritzte und ihr als Krönung noch eine Spritze verabreichte. Sie hasste die fremden Gerüche und Hände, die an ihr rumtasteten. Sie wehrte sich mit Krallen und Zähnen. Eigentlich hätte der Tierarzt noch gerne nachgeschaut, ob das Mädel denn kastriert ist oder nicht. Dafür hätte man ihr einen kleinen Fleck Haare am Bauch wegrasieren müssen. Doch Sira stellte sich derart ruppig an, dass man dieses Vorhaben vorerst bleiben liess. Es würde wohl nicht gleich etwas Unerwartetes passieren. Wenn Sira zur Ruhe gekommen war, konnte man diesen Eingriff ja noch nachholen.

Jetzt sass er vor ihr und musterten sie von oben bis unten. Sie war ebenso schwarz wie die Nacht. Ihre hellen gelben Augen bildeten den Kontrast zum sonst sehr dunkeln Fell. Am Hals hatte sie einen kleinen, weissen Fleck, eine Art Schmuckstück. Er strahlte wie eine Brosche. Welch schöne Erscheinung! Ihr Fell glänzte wie ein Brillant im Mondschein. Sie war äusserst zierlich. Silver wurde ganz aufgeregt. Lange war es her, seit er eine so schöne Katze gesehen hatte. Sie schien ganz jung zu sein, kaum ein Jahr alt. Und etwas war nicht zu übersehen und hören. Sie war rollig und bereit für eine heisse Liebesnacht.

Dann entdeckte er den Nebenbuhler. Dieser hockte kaum fünf Meter entfernt und knurrte ihn an. Welch hässlicher Kerl! Ein riesengrosser struppiger Tigerkater. Bestimmt hatte der sein Fell schon seit Wochen nicht mehr sauber gemacht. Es klebte überall zusammen. Am Rücken standen ganze Haarbüschel ab, die er sich nach dem Fellwechsel im Frühling nicht entfernt hatte. Im Schwanz hingen Blätter und Tannennadeln und eine Unmenge Harz. Er trug den halben Wald mit sich rum. Bestimmt lebte in seiner Unterwolle auch zahlreiches Ungeziefer. Er betrachtete ihn schäbig von oben bis unten. Wollte dieser hässliche Kerl ihm die Schwarze etwa ausspannen? Nein, das kam nicht in Frage, dafür würde er kämpfen. Die beiden Kater gingen aufeinander zu und schauten sich böse an. Sie blieben dicht voreinander stehen und blickten sich tief in die Augen. Sie stellten ihren Schwanz und die Haare. Die Ohren lagen flach an den Schädel angelegt. Die Augen waren kugelrund und weit geöffnet. In dieser Stellung wirkten sie doppelt so gross als sie wirklich waren. Es sah aus, als ob ihnen der Wind ins Fell geblasen hätte. Dabei knurrten und fauchten sie sich an.
Die Schwarze schaute dem Treiben aus einiger Entfernung zu. Sie würde sich für den Sieger entscheiden, denn ihre Kinder sollten mal einen starken Vater haben.
Es dauerte lange, bis die Kater aufeinander losgingen. Mit ihren Pranken versuchten sie zuerst einmal den Gegner im Gesicht und den Ohren zu erwischen. Silver konnte ausweichen. Er war noch jung und flink. Dann, als das Gefauche aufgehört hatte, ging alles blitzschnell. Man hörte grelle Schreie und ein lautes Fauchen. Dann sah man nur noch zwei Fellbündel, die aufeinander losgingen. Haarbüschel flogen durch die Gegend und bedeckten das Gras wie einen Teppich. Der Tigerkater hatte als Erster angegriffen und war voller Zorn auf Silver losgegangen. Dieser hatte sich aber ducken können. Blitzschnell hatte sich Silver umgedreht und den Gegner in den Hintern gebissen. Vor lauter Schreck und Schmerz hatte dieser dann die Flucht ergriffen. Silver sah nur noch den buschigen Schwanz, der hinter dem nächsten Haus verschwunden war. Jetzt war der Weg frei für seine schöne Schwarze.


Es dauerte fünf Tage, bis Silver wieder zur Gruppe aufgeschlossen war. Shumba war stocksauer und schimpfte in den höchsten Tönen mit ihm. Wie konnte er sie nur alleine lassen und die ganze Verantwortung auf Shumba abschieben? Sie hatten sich doch versprochen, zusammen zu bleiben. Doch Silver schwieg. Er sah immer noch die schönen gelben Augen von Sira vor sich und träumte davon, wie schön es mit ihr gewesen war. Und schliesslich hatte er die Anderen ja wieder gefunden. Was für ein Problem gab es denn? Es war ja nichts passiert. Sein Ausflug war ja ohne Folgen geblieben.
Da täuschte sich Silver aber gewaltig. Natürlich hatte sein Ausflug zur schönen Sira Folgen. Kati und Stefan bemerkten schon bald, dass Siras Hunger zunahm. Sie wurde noch anhänglicher und verschmuster und legte sich bei jeder Gelegenheit aufs Sofa neben Kati und Stefan. Sie war wie eine Klette und liess ihre "Eltern" nicht mehr aus den Augen. Drei Wochen später war dann nicht mehr zu übersehen, dass Sira trächtig war. Ihr Bäuchlein war bereits rundlich. Nun konnten sich Kati und Stefan auch den Kastrationstest beim Tierarzt sparen. Nun stand definitiv fest, dass Sira noch nicht sterilisiert war. Bald würde sie Nachwuchs bekommen.
Doch Kati hatte keine Erfahrung mit werdenden Katzenmüttern. Sie kaufte sich ein grosses, dickes Buch, um gewappnet zu sein, wenn es dann so weit war. Sie wusste bereits, dass sie der Katze eine Wurfkiste hinstellen müsste, also besorgte sie sich eine. Diese legte sie mit flauschigen Decken aus und zeigte Sira, dass hier der Platz war, an dem sie ihre Kinder zur Welt bringen durfte. Auch hatte Kati gelernt, dass eine Katzenschwangerschaft zwischen 60 und 64 Tagen dauert. Da sie aber nichts von Silver und seinem Abstecher wusste, konnte sie auch nicht ausrechnen, wann es denn so weit sein sollte.
Als sie Wochen später nach der Gesangsprobe nach Hause kam, fand sie Sira in den Wehen vor. Die schöne Schwarze hatte grosse Schmerzen. Sie presste und versuchte, die Kätzchen rauszudrücken, doch es ging nicht. Kati war hilflos. Sie hätte der Katze so gerne geholfen, doch sie konnte nichts tun. Sie versuchte es mit sanftem Massieren. Dabei spürte sie die Wehen, die Siras Körper durchzogen und sah in das schmerzverzerrte Gesicht der kleinen Schwarzen. Nichts passierte. Sie konnte die kleinen Körper deutlich spüren, die den Schoss der Mutter verlassen wollten. Doch Sira war noch zu klein und fein. Sie konnte die Kinder nicht gebären. Keines der Kinder kam auf die Welt. Je länger der Geburtsvorgang dauerte, desto unheimlicher wurde es Kati. Was konnte sie nur tun? Sie konnte doch nicht mit ansehen, wie Sira an dieser Geburt zu Grunde ging? Sie packte die Schwarze in eine Decke und fuhr in Windeseile zur Tierklinik. Dort würde man sich um die Katze kümmern. Sie hätte keine Minute länger warten dürfen. Die Tierärzte nahmen ihr die Kleine sofort aus den Armen und brachten sie in den Operationssaal. Es war ein Rennen mit der Zeit. Sira war zu schwach geworden, um noch weiter zu pressen. Sie war am Ende.
Wenige Minuten später erblickten nach einem Kaiserschnitt sechs junge Kätzchen das Licht der Welt. Drei von ihnen waren äusserst schwach. Ihr Zustand war besorgniserregend. Die Tierärzte behielten Mutter und Kinder noch für einen Tag zur Beobachtung in der Klinik. Sie sollten sich zuerst von den Geschehnissen erholen.




Auch wenn sich Kati und Stefan an den Kleinen freuten, stand von Anfang an fest, dass sie nicht alle behalten konnten, doch trennen konnten sie sich von den Kleinen auch nicht. Lange konnten sie sich nicht entscheiden, was mit den Kleinen passieren sollte. Sie waren hin- und hergerissen. Wieder war eine Entscheidung fällig, die ihnen sehr schwer fiel. Nach langer Beratung und wider besseres Wissen, durfte der kleine Graue bei seiner Mama bleiben. Die zwei Geschwister mussten eines Tages von ihrer Mama und ihren Brüdern Abschied nehmen. Sie zogen zu einer netten Familie in der Nachbarschaft um.
Sira war überglücklich, dass der kleine Graue bei ihr bleiben durfte. Er würde sie jeden Tag an den Papa erinnern und an die schönen Nächte mit ihm. Auch wenn er noch nicht so stark wie sein Vater war, glich er ihm aufs Haar. Er würde eines Tages ein genau so stattlicher Kater werden wie er. Sie dachte sehr oft an ihn. Wie schön wäre es doch gewesen, wenn Silver seine Kinder nur ein Mal gesehen hätte. Manchmal in der Nacht, wenn ihr Grauer schlief, schlich sie aus dem Haus und hielt Ausschau nach ihm. Sie wusste ja nicht, dass er auf dem Heimweg war und bereits Kilometer von ihr entfernt.