Leo
Buch 5
Leo
Es war den ganzen Tag schwül gewesen. Von seinem Hochsitz aus sah Lucky die Berge, die man nur bei Föhnwetter zu sehen bekommt. Irgend etwas lag in der Luft, eine Art Bedrohung. Heute ging Lucky nur kurz zu Amira, denn er wollte zu Hause sein, wenn das Gewitter loslegte. Er kannte die Vorzeichen, die Unheil versprachen. Nachdem es seit Wochen nicht mehr geregnet hatte, überzogen jetzt dunkle Wolken den erst noch klaren Himmel. Während er bei Amira sass, schaute er regelmässig zum Himmel hoch. Es wurde immer dunkler. Die Blätter an den Bäumen begannen sich zu bewegen. Erst kam ein leichter Wind, dann blies er heftig und stark. Die Zweige neigten sich unbändig auf und ab, es rauschte und pfiff aus den Bäumen. Die Windböen nahmen an Stärke zu. Aus dem leichten Wind war innert kürzester Zeit ein m*ttlerer Orkan entstanden.
Lucky flüsterte seiner Geliebten ein paar nette Worte zu und verabschiedete sich blitzschnell. Sie sollte hinein gehen, in den geschützten Bereich, hatte er ihr gesagt. Er selber machte sich auf den Weg, wollte daheim sein, bevor das Unwetter loslegte. Thomas machte sich daheim schon Sorgen, als Lucky noch nicht da war. Er sah die dunklen Wolken und hörte schon das erste Plätschern des Regens. Die Bäume im Wald wanden sich in alle Richtungen. Draussen sah es bedrohlich aus. Ein Stein fiel ihm vom Herzen, als er die Katzentüre hörte und Lucky, wenn auch vollkommen durchnässt, im Wohnzimmer stand.
Auch Anna hatte den Moment verpasst, sich in Sicherheit zu bringen. Sie war noch mit dem Auto unterwegs, auf dem Heimweg aus der Stadt. Weit war es nicht mehr, doch die Sicht war äusserst schlecht. Obwohl es erst 18 Uhr war, musste sie die Lichter einschalten, um überhaupt noch was zu erkennen. Von überall flogen Blätter auf die Strasse. Auch kleinere Aeste kamen ihr entgegen. Wäre sie nur früher abgefahren, hätte sie den Sturm umfahren. Nun war sie mittendrin und hatte mit den Folgen zu kämpfen.
Weit war es nicht mehr nach Hause. Sie bog nach der geschützten Unterführung in die Bahnhofstrasse ein. Auf der linken Seite wurde ein Industriehaus gebaut. Und genau aus dieser Richtung kam der Wind. Er hatte sich einen Weg freigeblasen, mitten durch die Baustelle. Der Orkan schleuderte alles auf die Strasse, was er im Vorbeirauschen erfassen konnte. Die Baustellenabdeckung lag bereits mitten auf der Fahrbahn. Wo man hinsah, hingen zerfetzte Plastikteile. Die Werbefolien und Schilder der Baufirmen hingen lose am benachbarten Gartenzaun. Die wenigen Bäume, die man neben der Baustelle stehen gelassen hatte, neigten sich bedrohlich der Erde zu. Wenn sie nur nicht umfallen würden. Anna hatte Mühe, überhaupt irgendetwas zu erkennen. Grosse Holzstücke kamen durch die Gegend geflogen. Auf der Baustelle stürzte ein ganzes Fenster vom ersten Stock in das Erdgeschoss hinunter. Sie hörte das Klirren, als es am Boden zerbarst. Sie wusste gar nicht, worauf sie zuerst achten musste. Es herrschte das totale Chaos. "So wird es sein, wenn die Welt untergeht", dachte sie. Sie wollte nur noch nach Hause, in die geschützte Wohnung und die Fensterläden schliessen.
In diesem Moment krachte ein Ast auf die Strasse hinunter. Sie erschrak und schrie laut auf. Dann ging alles blitzschnell. Kaum hatte sie sich vom Schock erholt, spürte sie etwas unter ihren Rädern. Ihr Auto hob sich kurz, dann war alles vorbei. Sie stand noch immer unter Schock, schaute nur kurz in den Rückspiegel. Dort lagen zahlreiche Holzstücke, die der Wind auf die Strasse geschleudert hatte. Sie raste nach Hause. Erst als sie die Garage erreicht hatte, wurde sie ruhiger. Hier war sie in Sicherheit. Sie schloss die Haustüre auf, rannte ans Fenster und liess die Rollläden herunter. Sie wollte dem Sturm nicht mehr ins Auge sehen.

Wo sie hinschaute, lagen Blätter, Aeste und Holz herum. Der Wind hatte getobt. Sonnenstoren waren weggerissen, Strassenlampen zerschellt. Die Verkehrsampel hatte sich auf die andere Seite gedreht und hing eigenartig in ihrer Verankerung. Bei der Baustelle stellte sie den Wagen ab. Sie schaute auf die Strasse, wo noch immer zahlreiche Holzstücke lagen. Auch das zerbrochene Fenster lag noch immer dort. Sie ging dem Strassenrand entlang und suchte nach einem Anzeichen, dass sie hier ein Tier verletzt hatte. Nichts, rein gar nichts war zu sehen. Auch schaute sie in die Gärten, ob sich vielleicht irgendwo ein verletztes Tier versteckt hatte. Sie konnte nichts entdecken und ging eine Stunde später erleichtert wieder nach Hause.

Am nächsten Morgen fuhr sie erneut zum Tatort. Bereits waren die Bauarbeiter daran, die Scherben aufzuräumen und die Bretter von der Strasse zu entfernen. Sie schaute nochmals in jeden Garten. Dann nahm sie allen Mut zusammen und klingelte an einer Haustür. Eine freundliche Frau öffnete ihr, erklärte ihr aber, dass kein Haustier bei ihr wohne. Sie setzte ihre Nachforschungen fort, klingelte an jeder Türe. Je länger es dauerte, desto sicher war sie sich, dass sie eine Katze überfahren hatte. Es war etwa das zehnte Haus, bei dem sie fündig wurde.
Hier war der Unglückskater zu Hause, hierher hatte er sich geschleppt. Sein Name war Leo. Er lebte mit seinen Artgenossen in einem mehrstöckigen Einfamilienhaus bei Vera. Er war das, was man einen "Freigänger" nannte. Er durfte das Leben geniessen wie er wollte. Seitdem auf der gegenüberliegenden Strassenseite gebaut wurde, machte er viele Ausflüge dorthin. Natürlich musste er deswegen die Strasse überqueren, doch waren die Schutzengel bisher stets bei ihm gewesen.

So fand ihn Stefan, als er eine Stunde später nach Hause kam. Er wohnte zwar nicht hier, wollte aber nachschauen, ob in seinem Elternhaus alles in Ordnung war. Seine Mutter war heute bei Bekannten eingeladen. Wie erstaunt war er doch, als er Leo da liegen sah. Wieso war er nicht im Hause drin? Warum schrie er denn so? Als er Leo hochheben wollte, sah er das verletzte Bein, das wie leblos herunterhing. Nun war ihm klar, was geschehen war. Er rief den Tierarzt an, dass er hier einen Notfall hatte, und machte sich auf den Weg.
Thomas hatte ja nicht weit zu seiner Praxis. Nach dem Anruf von Stefan ging er hinüber und startete alle notwendigen Maschinen. So könnte er sofort handeln, wenn es nötig wäre. Nur zwanzig Minuten später trafen Leo und sein Retter ein. Leo war noch immer nass und voller Blut. Thomas' fachkundiger Blick verriet ihm sofort, dass Leo einen schweren Unfall gehabt hatte. Gott sei Dank hatte er den Röntgenapparat bereits gestartet. Nun würde er bald wissen, wie schlimm die Verletzung war. Kurze Zeit stand das Resultat fest: Leo hatte sich sein Bein vier Mal gebrochen, ansonsten war er okay.

Als Anna ihn nach ein paar Tagen besuchen kam, sah sie das Elend. Dies war kein Katzenleben, der Käfig war viel zu eng. Sie hatte im Geschäft, wo sie arbeitete, einer Kollegin die Geschichte erzählt. Diese schlug ihr vor, aus einem Käfig ein doppeltes Gehege zu machen. Sie hatte zu Hause einen gleichen Käfig, noch aus der Zeit, als ihr Kater Emsy verunfallt war.
Am gleichen Abend noch brachten sie den zweiten Käfig zu Vera. Sie stellten die beiden Gitterverschläge so aneinander, dass Leo durch eine Durchgangstüre von einem zum anderen Käfig gelangen konnte. Trotzdem war es ihm nicht möglich, unbedachte Schritte zu machen oder rumzuklettern. Leo war ihr sehr dankbar. Er war ein reinlicher Kater und hasste nichts mehr, als wenn das Futter direkt neben dem Katzenklo stand. Nun hatte er einen Käfig, in dem er herumlaufen, liegen und fressen und einen anderen Käfig, in dem er sein Geschäft verrichten konnte. Dieses Gehege war nun standesgemäss für einen Kater wie ihn.

Es war einfach Pech, dass er diesen Unfall gehabt hatte. Natürlich lebte er gefährlich so zwischen Wohnhaus und Baustelle. Unter normalen Umständen wäre ihm das alles nicht passiert. Doch das Fenster, das auf dem Boden aufkrachte, hatte ihn derart erschreckt, dass er kopflos über die Strasse gelaufen war. Dabei hatte er noch Glück, dass er sich nur das Bein gebrochen hatte.
Leo bekam regelmässig Besuch. Anna kam so oft als möglich vorbei. Sie freute sich, dass es Leo allmählich besser ging. Ab und zu kam auch noch Tina, die Frau, die ihm den zweiten Käfig besorgt hatte. Er war ihr sehr dankbar, dass sie ihm das Krankenzimmer vergrössert hatte. Dafür leckte er ihr die Hand und schnurrte ihr entgegen. Mit seinem dicken Schädel tönte das, als schnurrten zehn Katzen auf ein Mal.

